aus bma 03/02
von Klaus Herder
Unveränderter Hubraum, drei PS mehr Spitzenleistung, ein Liter mehr Tankinhalt und ein um sieben Kilogramm erhöhtes Kampfgewicht – ist das 425 Euro Mehrpreis wert? Wahrscheinlich nicht, denn es geht hier um die Honda VFR. Und die war schließlich schon als 2001er-Modell nahezu perfekt.
Wenn da nicht die Sache mit dem Äußeren gewesen wäre. Welche Sache denn? Tja, genau das war das Problem der bisherigen VFR. Ihre unscheinbare, fast schon biedere Form störte niemanden, aber – und das war viel schlimmer – faszinierte auch niemanden so richtig. Es ist ja sehr löblich, zurückhaltend und bescheiden auf die im Verborgenen steckenden Qualitäten zu setzen, doch inmitten einer Meute von immer sportlicheren und aggressiveren Konkurrenzmodellen drohte der VFR ein Mauerblümchen-Schicksal. So ganz neu ist das Thema VFR-Verjüngung für Honda allerdings nicht. Das gab’s schon mal, als die seit 1986 verkaufte RC 24 im Jahr 1990 von der deutlich dynamischeren RC 36 abgelöst wurde. Deren Nachfolgemodell kam 1998 mit der RC 46, die technisch einen ordentlichen Schritt nach vorn machte (u.a. Hubraumerhöhung, Einspritzung und Kat), formal aber nur unwesentlich Gas gab.
Das ist nun auch schon wieder vier Jahre her, und ein Nachfolgemodell war gemäß typisch japanischer Terminplanung ohnehin fällig. Doch nun kam den Honda-Verantwortlichen etwas ganz Gewagtes in den Sinn: eine Modellpflege, bei der Technik und Form gleichzeitig überarbeitet werden sollten. Nun sind die Japaner in Sachen Technik ja fast unschlagbar, neigen in ihrer Formensprache aber zur gepflegten Langeweile. Das Thema VFR-Form wurde daher erstmalig zur europäischen Angelegenheit erklärt. In Hondas Offenbacher Entwicklungszentrum durfte ein internationales Team so richtig die Sau rauslassen und mutig in Ton modellieren. Das Tonmodell ging dann nach Japan ins Forschungs- und Entwicklungszentrum in Asaka, wo sich die japanischen Techniker und Kaufleute über die ersten Entwürfe aus dem verrückten Europa wahrscheinlich kräftig amüsiert haben dürften. Die Japaner korrigierten hier und änderten dort und schickten alles zurück nach Offenbach. So ging das eine Zeit lang hin und her, bis die endgültige Form gefunden war. Und die hat nun laut Honda-Presseinfo „eindeutig europäisch inspirierte Linien und Kurven.“
Am auffälligsten ist das neue VFR-Gesicht. Aus Mutter Beimer haben die Offenbacher Dolly Buster gemacht. Oder so ähnlich, denn gleich vier Scheinwerfer plus zwei Park-leuchten in zwei V-förmig angeordneten Einheiten sorgen für einen mächtig bösen Blick. Und glücklicherweise auch für eine perfekte Ausleuchtung des Tatorts – das VFR- Sixpack ist allererste Sahne. Hinter der Verkleidung sieht’s auch frischer aus. Hauptdarsteller im neu gestalteten Cockpit ist der mittig platzierte und analog anzeigende Drehzahlmesser. Der liegt aus gutem Grund direkt im Blickfeld des Fahrers – doch dazu später. Ansonsten geht’s hier mächtig digital zu: Tacho- und Temperaturanzeige links, Tank- und Zeituhr sowie zwei Tages- und ein Gesamtkilometerzähler rechts. Alles schön übersichtlich und auch nachts gut abzulesen.
Weiter geht’s mit dem neu geformten Tank. Flacher und breiter ist er geworden. Statt 21 passen nun 22 Liter rein, es darf Normalbenzin sein. Wir kommen zur Sitzbank, bei der sich der Sozius über ein 15 mm dickeres Polster freuen darf. Die Beifahrer-Haltegriffe sind nun 10 mm länger, die an ausgesprochen formschönen Haltern montierten Sozius-Rasten sitzen 10 mm niedriger. Diese Tieferlegung wurde möglich, weil Honda die VFR-Auspuffanlage deutlich höher legte – nämlich direkt unter den Heckbürzel. Die ein wenig nach Raumschiff-Bewaffnung aussehenden Töpfe heißen in der offiziellen Honda-Sprachregelung „Centre-Up-Doppelauspuffsystem”. Klingt doch toll. Die Heckleuchte nimmt die V-Form der Scheinwerfer auf, was zu diesem Zeitpunkt aber niemanden mehr überraschen dürfte – an der neuen VFR sieht eben alles ein wenig nach V aus.
Unter der schicken neuen Schale tat sich ebenfalls Gewaltiges. Vier in V-Form (!) und im 90-Grad-Winkel angeordnete Zylinder sind’s zwar immer noch, und an den 782 ccm Hub-raum des Vorgängermodells hat sich auch nichts getan, doch ansonsten blieb alles anders. So werden die je zwei obenliegenden Nockenwellen nun nicht mehr von Zahnrädern sondern von Ketten angetrieben. Schlauberger mit Maschinenbau-Studium werden nun einwenden, dass das ein technischer Rückschritt ist und Honda nur die Fertigungskosten senken wollte. Honda kontert mit geringeren mechanischen Geräuschen und drei Kilogramm Gewichtsersparnis. Und kleinere Ventilwinkel und damit kompaktere Brennräume ließen sich dank Kettenantrieb ebenfalls realisieren. Was ja nun auch alles recht schlüssig klingt. Abgesehen davon erledigen weltweit Millionen von Ketten ihren Ventiltrieb-Job keinen Deut unzuverlässiger als irgendwelche Zahnriemen, Zahnräder oder Königswellen. Also vergessen wir die Jammerei und widmen uns den Ventilen an sich.
Womit der eingangs erwähnte Drehzahlmesser wieder im wahrsten Sinne des Wortes ins Blickfeld rückt. Die VFR lebt nämlich in zwei Drehzahl-Welten: in der freundlichen Harmlos-Welt unter 7000 U/min. Und in der bitterbösen Feuer-Welt über 7000 U/min. Unterhalb der magischen Drehzahlgrenze ist der VFR-Motor ein Zweiventiler, darüber arbeitet er als Vierventiler. Dafür sorgt das clevere „V4-VTEC-System”, das pro Zylinder je ein diagonal gegenüberliegendes Ein- und Auslassventil zu- oder abschalten kann. Das geschieht über öldruckgesteuerte Bolzen, die dafür sorgen, dass Tassenstößel und Ventil eine feste Verbindung eingehen. Oder auch nicht, denn unterhalb von 7000 U/min werden die besagten Tassenstößel zwar von den Nocken nach unten gedrückt, haben aber keine Verbindung mit dem jeweiligen Ventil. Klingt kompliziert, ist aber halb so schlimm und in Honda-Autos schon seit längerem problemlos im Einsatz.
Nun stellt sich der geneigte Leser natürlich die Frage „Warum machen die das überhaupt?” Honda argumentiert damit, dass im unteren und mittleren Drehzahlbereich ein Zweiventiler mit relativ kleinen Ventilen echte Vorteile hat. Zum Beispiel einen besseren Drehmomentverlauf sowie geringere Spülverluste und damit einen geringeren Schadstoffausstoß. Wenn volle Leistung gefragt ist, kann gar nicht genug Frischgas in die Brennräume gelangen – womit ein drehzahlhungriger Vierventiler wieder im Vorteil ist.
In der Praxis ist der Übergang deutlich zu spüren und noch deutlicher zu hören. Aus dem dezenten Grummeln des V4 wird ein heiseres, metallisches Kreischen. Die Drehzahlmessernadel kommt urplötzlich gewaltig in Wallung und strebt unaufhaltsam der Nenndrehzahl von 10.500 U/min entgegen, bei der dann 109 überaus muntere Pferdestärken galoppieren. Auf dem Weg dorthin passiert sie die 8800er-Marke, bei der das maximale Drehmoment von soliden 80 Nm anliegt. Der Übergang in den Vierventil-Betrieb hat nicht ganz den ultimativen Kick eines Turbo-Tritts, doch Spaß macht das Spiel mit der Drehzahl allemal. Und wer das alles zu albern findet, wird nicht zu seinem Glück gezwungen. Um nämlich überhaupt in die Nähe der magischen 7000er-Marke zu kommen, muss bei Landstraßentempo in den dritten Gang zurück geschaltet werden. Im sechsten und letzten Gang sollten schon knapp 170 km/h anliegen, damit aus dem Zwei- ein Vierventiler wird. Dann hat man allerdings noch ein paar Reserven: Erst bei knapp 250 km/h ist Schicht – für eine 800er doch recht beachtlich.
Kommen wir zur Rubrik „Perfekt”. Die ist VFR-gemäß üppig gefüllt. Na denn: Laufkultur (tadellos, keine Vibrationen, sehr gute Gasannahme, keine Durchhänger), Kupplung (butterweich, super leichtgängig), Schaltung (kurz, knackig, Getriebe goldrichtig gestuft), Ergonomie (Knieschluss, verstellbare Handhebel, Lenkerkröpfung – alles passt). Die Bremsen haben ein paar ausführlichere Worte verdient. Die VFR ist serienmäßig mit einem Verbundbremssystem ausgestattet. Glücklicherweise aber nicht mit einem der Sorte „Egal wo man drauftritt oder hinfasst – die Fuhre bremst immer gleich mäßig”. Nein, das in der VFR verbaute System arbeitet viel cleverer und passt gut zum neuen Sportler-Image. Mit der Handbremse werden die beiden äußeren Kolben der linken vorderen Bremszange und alle drei Kolben der rechten Bremszange sowie der mittlere Kolben der hinteren Bremszange betätigt. Mit der Fußbremse werden hinten zwei und vorne nur ein Bremskolben aktiviert. Wer nur leicht mit der Fußbremse bremst, bemerkt auch fast nur hinten Wirkung. Wer ordentlich reinlangt, bekommt die optimale Verteilung geboten. Die neue Kombi-Bremse funktioniert praktisch wie eine gute konventionelle Sportlerbremse. Nur eben noch einen Tick besser.
Wer 12.240 Euro statt 11.490 Euro investiert, bekommt die VFR mit ABS (und einem Einstellrad für die Federvorspannung des Federbeins). Wer das nicht macht, ist schön blöd, denn der erstmalig für eine VFR angebotene Blockierverhinderer arbeitet perfekt und greift auch wirklich erst dann ein, wenn ohne ABS nichts mehr gehen würde. Das System regelt dermaßen sensibel und blitzschnell, dass das von einem bekannten deutschen Motorradhersteller verbaute System im direkten Vergleich wie eine Holzklotzbremse anmutet. Die VFR mit ABS wiegt vollgetankt 249 kg und damit 5 Kilo mehr als das ABS-lose Schwestermodell. Ein Leichtgewicht ist die neue VFR damit wirklich nicht, aber außer beim Rangieren sind die Pfunde praktisch nicht zu spüren.
Zielgenau, äußerst flink und jederzeit gut berechenbar wuselt der nun deutlich straffer abgestimmte Sporttourer um Biegungen aller Art. Kein Aufstellen, kein Reinkippen, kein Schaukeln – einfach nichts. In Sachen Fahrverhalten ist die neue VFR genauso wie das Vorgängermodell: einfach unglaublich unspektakulär. Beim Spritverbrauch hat sich auch nichts Wesentliches getan. Zwischen sechs und sieben Liter jagen auf 100 Kilometern bei zügiger Gangart durch die Einspritzanlage. Beim gemütlichen Landstraßentouren sind auch mal unter fünf Liter Verbrauch machbar. Ebenfalls alles eher unspektakulär – halt wie immer.
Womit wir wieder bei der Eingangsfrage wären: Ist die neue VFR den Mehrpreis wert? Ist sie besser als ihre Vorgängerinnen? Klare Antwort: Ja. Vielleicht ist sie gar nicht so sehr viel besser geworden. Aber sie ist wesentlich geiler als jede VFR zuvor. Der Motor macht unglaublich Spaß, das Fahrwerk ist deutlich sportlicher und dabei nicht unkomfortabel, und das ABS ist sein Geld doppelt und dreifach wert. Und dass die VFR nun deutlich böser aussieht, macht sie eher noch sympathischer.
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