aus bma 11/07

von Klaus Herder

Kawasaki GTR 1400 So alle 20 Jahre fällt den Kawasaki-Verantwortlichen ein, daß ein echter Tourer ganz gut ins Programm passen würde. 1986 war das die GTR 1000, die mit dem von 125 auf 112 PS (in Deutschland maximal 100 PS) gedrosselten Motor des Sportlers GPZ 1000 RX auf die Langstrecke gehen sollte. Kardan und Overdrive machten das Tourer-Paket komplett. Die vollgetankte GTR wog satte 307 Kilogramm. Die erste GTR blieb hierzulande bis 2003 nahezu unverändert im Programm, die USA-Version „Concours” hielt sich sogar bis 2006 in der Übersee-Preisliste. Stichwort Preisliste: Die GTR 1000 kostete anfangs faire 15900 Mark und war damit rund 1400 Mark günstiger als eine vergleichbare BMW.
Besagte 20 Jahre später startet Kawasaki den zweiten echten Tourer-Versuch der Firmengeschichte. Die GTR 1400 ist mit dem von 190 auf 155 PS gedrosselten Motor des Sportlers ZZR 1400 bestückt. Den Endantrieb besorgt eine Kardanwelle, der sechste und letzte Gang ist als drehzahlsenkender Overdrive ausgelegt. Vollgetankt bringt der Kawa-Tourer 313 Kilo auf die Waage. Die GTR 1400 kostet ebenfalls 15900, genauer gesagt 15930 – nur leider Euro, nicht Mark. Und ist damit natürlich wieder günstiger als eine vergleichbare BMW. Wir lernen daraus: Geschichte wiederholt sich.
Ob sich die 1400er auch 20 Jahre im Kawasaki-Programm halten kann, bleibt abzuwarten. Die Konkurrenz ist mit BMW K 1200 GT, Honda Pan European und Yamaha FJR 1300 A mächtig gut aufgestellt. Allerdings kann die GTR gleich zwei Superlative für sich verbuchen: Sie ist der derzeit leistungs- und hubraumstärkste Tourer (Anmerkung für Goldwing-Fahrer: Ja, ich weiß, daß euer Schätzchen noch mehr Hubraum hat, aber der gehört doch auch in die Kategorien „Supertourer” oder „Einspurauto”, gell).

 

Die Kawasaki-Pressemappe zur GTR macht mächtig auf dicke Hose: „…werden wir die Meßlatte in dieser Klasse noch einmal höher legen.” Oha, ausgerechnet den Klapphelm- und Heizgriff-Junkies von BMW, den Honda-Großrollerfahrern oder den Yamaha-Extrem-Vernunft-Bikern ans ABS-bestückte Vorderrad pinkeln zu wollen, ist schon ziemlich mutig. Da muß schon etwas mehr kommen, als ein paar nette Katalogwerte und Prospektsprüche. Kommt auch, nämlich in Form des nicht nur bei Marketingfritzen so beliebten „Alleinstellungsmerkmals”. Kawasaki besann sich rechtzeitig, also vor Beginn der GTR-Entwicklung, auf seine Stärke. Und die lautet natürlich Sport. Grün war immer schon etwas dynamischer als die Konkurrenz.
Die GTR macht da keine Ausnahme, und das spürt man bereits bei der ersten Sitzprobe deutlich. Der Oberkörper ist etwas weiter nach vorn geneigt, die Fußrasten sitzen etwas höher, der Lenker ist nicht ganz so breit wie bei anderen Reisemobilen. Und trotzdem paßt alles auch mäßig trainierten Ü40-Fahrern auf Anhieb. Wer nicht gerade Rheumapatient, Träger eines extrem ausgeprägten Holstengeschwürs oder kürzer als 1,70 Meter ist, sitzt auf der relativ hohen (820 mm) und angenehm straff gepolsterten GTR-Sitzbank sehr angenehm.
Kawasaki GTR 1400 Als erste Amtshandlung darf sich der GTR-Neuling entscheiden, ob er das nun folgende Startprocedere richtig toll oder richtig schlecht finden soll. Dazwischen gibt es nichts. Die Richtig-toll-Fraktion freut sich darüber, daß die Zündschlüssel-Fummelei ein Ende hat. Besagter Zündschlüssel (besser: Zündknebel), ein riesengroßes und kaum zu übersehendes Teil, darf nämlich eigentlich immer im Zündschloß oberhalb der Gabelbrücke verbleiben. Etwas anfangen kann damit nur der Träger eines funkwellenmäßig passenden Transponders. Das in etwa streichholzschachtelgroße Teil gibt das Zündschloß automatisch frei, wenn es näher als zirka vier Meter heran kommt. Mit bereits angezogenen Handschuhen in den Tiefen der Regenkombi nach dem Zündschlüssel fingern gehört damit der Vergangenheit an.
Die Richtig-schlecht-Fraktion fragt sich allerdings, was an „KIPASS” (Kawasakis Intelligent Proximity Activation Start System) so toll sein soll. Ohne den eher unhandlichen, weil nicht Schlüsselbund-kompatiblen Transponder geht nämlich gar nichts. Wenn der in der falschen Hose oder Jacke steckt, fängt die Sucherei erst richtig an. Nicht auszudenken, was los ist, wenn die Transponder-Batterie mal keinen Saft mehr hat. Ums Schlüsselabziehen kommt man auch nicht ganz herum, denn die beiden serienmäßigen 35-Liter-Koffer und der Tankverschluß benötigen konventionelle Schlüsselhilfe.
Doch solche Gedanken verblassen sofort, wenn die GTR erst einmal rollt. Sie ist ein typisches Man-fühlt-sich-auf-Anhieb-wohl-Motorrad. Praktisch ohne Eingewöhnungszeit kommt da grenzenloses Vertrauen auf. Die üppige Verkleidung mit ihrer vom linken Griff aus elektrisch stufenlos verstellbaren Scheibe und den beiden weit ausladenden Spiegelohren mag noch so imposant wirken, ihre Pfunde kaschiert die GTR sehr geschickt – und das bereits im Stadtverkehr. Das mag unter anderem damit zusammenhängen, daß vieles, was richtig wiegt (22-Liter-Tank, ABS-Steuereinheit) ziemlich tief und sehr schwerpunktnah untergebracht ist. Der Reihenvierzylinder ist derweil kaum zu hören, und daß eine Kardanwelle den Hinterradantrieb besorgt, bleibt ebenfalls nahezu unbemerkt. Eine ziemlich clever gemachte Schwinge mit doppelter Momentabstützung („Tetra-Lever”) sorgt dafür, daß es keinerlei Fahrstuhleffekt gibt. Ein Kettenantrieb fühlt sich nicht sehr viel anders an.
Kawasaki GTR 1400 Der flüssigkeitsgekühlte Reihenvierer macht derweil auf Turbine. Zwei Ausgleichswellen befreien ihn äußerst wirksam von fast allen spürbaren Vibrationen. Die Einspritzanlage möchte dem nicht nachstehen und setzt Gasgriffbefehle wunderbar direkt um. 1352 ccm Hubraum, 136 Nm maximales Drehmoment und nicht zuletzt besagte 155 PS lassen auf sehr, sehr standesgemäßen Vortrieb, insbesondere Durchzug hoffen. Doch halt! Die Organspenderin ZZR 1400 machte nicht gerade mit brutaler Antrittstärke aus den Tiefen des Drehzahlkellers von sich reden. Der hässliche Begriff „Luftpumpe” machte sogar die Runde, weil unterhalb von 5000 U/min bei ihr wenig bis gar nichts geht. Doch gemach. Bevor der ZZR-Motor zum GTR-Motor mutierte, kam er kräftig unters Messer: Kleinere Drosselklappen, reduzierte Verdichtung, mehr Schwungmasse und vor allem die variable Ventilsteuerung auf der Einlaßseite sorgten für mehr Bums bei niedrigen und mittleren Drehzahlen. Ab knapp 2000 Touren nimmt der GTR-Vierer sauber Gas an, bereits 1000 Umdrehungen später geht es schon sehr ordentlich zur Sache. Das maximale Drehmoment wird jetzt schon bei 6200 U/min und damit 1300 Touren früher auf die Kurbelwelle geschaufelt. Und so geht es munter weiter. Der GTR-Motor ist keine Dampframme, er ist eine Turbine. Ungemein gleichmäßig, ohne irgendeinen Durchhänger dreht und dreht er bis knapp über 10000 U/min. Das seidenweiche Leistungsband paßt perfekt zum sehr souveränen Touren. Und trotzdem: Es bleibt eigentlich immer spürbar, daß hier ein Kawa-Viererpack mit Sportlervergangenheit am Werke ist
Ab 40 km/h geht alles im fünften Gang. Für den sechsten vermeldet die Ganganzeige im übersichtlichen Cockpit „OD”, was für den ellenlang übersetzten Overdrive steht. Mit OD-Anzeige läßt sich mit Tacho 200 und nur 6000 U/min locker über die Autobahn bummeln. Vorausgesetzt, der Fahrer mag eine frische Brise. Die bekommt er so oder so. In unterster Scheibenstellung stehen sogar die Schultern kräftig unter Druck, und auch in oberster Stellung bleibt für den Helm noch spürbar Fahrtwind über. Machen wir es kurz: Das kann die Konkurrenz besser. Bleibt als Trost die angekündigte, deutlich höhere Originalzubehör-Scheibe.
Mit sehr viel mehr als 200 km/h werden es sensible Naturen auf der GTR auf Dauer aber ohnehin nicht angehen lassen. Wird es schneller, kommt nämlich auch ungewollte Bewegung in die Angelegenheit. Leicht, eigentlich unkritisch, aber doch spürbar beginnt die GTR zu pendeln. Das hat nichts Gefährliches, aber wirklich Spaß macht es auf Dauer nicht. Kurze Zwischenspurts, und sei es auch nur, um dem drängelnden Fünfer-BMW seine natürlichen Grenzen aufzuzeigen, machen mit der GTR aber durchaus Laune. Selbst bei Tacho 230 legt der Vierzylinder noch munter zu. Die in den Kfz-Papieren versprochenen 255 km/h müssen kein theoretischer Wert bleiben, wenn die Bahn frei ist und das Nervenkostüm des Fahrers Reserven hat.
Kawasaki GTR 1400 Vom nicht ganz befriedigenden Windschutz abgesehen bietet die GTR alles das, was Vielfahrer so schätzen. Vor allem Komfort: Der Griff zur hydraulisch betätigten Kupplung ist genauso angenehm leichtgängig wie die Fußarbeit am Schalthebel. Eine Anti-Hopping-Kupplung gibt’s serienmäßig, hervorragendes Abblend- und Fernlicht ebenfalls. Die Scheinwerferhöhe läßt sich bequem über ein Handrad im Cockpit verstellen. Direkt daneben sitzt eine praktische Steckdose. Die Blenden der Luftaustritte in der Verkleidung lassen sich entfernen, was in der kalten Jahreszeit für warme Unterschenkel und Knie sorgt. Aber auch mit Blende und erst recht im Sommer wird den Haxen nie kalt, die Wärmeabstrahlung ist recht heftig. Was fehlt, ist ein vernünftiger Hebel, der das Aufbocken auf den Hauptständer erleichtern würde. Das nicht abschließbare Handschuhfach bietet ausreichend Platz für Handy und Mautzettel, Tankrucksackfahrer hätten ein Fach in der Verkleidungsseite aber vermutlich lieber gesehen. Etwas wenig sehen kann man in den Spiegeln, denn die recht hoch montierten Koffer versperren ein Drittel des Rückblicks.
Die in Federbasis und Zugstufendämpfung verstellbaren Federelemente sind in ihrer für 90-Kilo-Fahrer perfekt passenden Grundabstimmung auf der sportlichen, aber nicht unkomfortablen Seite. Die fette 43-Millimeter-Upside-down-Gabel bügelt sehr feinfühlig über Fahrbahnverwerfungen und führt das Vorderrad doch jederzeit absolut zielgenau. Ein Handrad macht die Verstellung der Federvorspannung am Federbein zum Kinderspiel. Besagte straffe Grundabstimmung paßt bestens zu den Handlingqualitäten der GTR. Wirkte sie bereits im Stadtverkehr erstaunlich leichtfüßig, setzt sie auf kurvigen Landstraßen noch einen drauf. Spätestens in flotten Kurvenkombinationen merkt man, was die GTR von der Konkurrenz unterscheidet: Sie läßt sich einfach noch etwas flotter ums Eck schwenken. Ihre Schräglagenfreiheit (siehe Montageposition der Koffer…) läßt sich im normalen Straßenverkehr praktisch nicht ausreizen. Die famosen Bridgestone BT 021, hinten als wichtiger 190er-Schlappen, machen das Kurvenräuber-Glück perfekt. Über den aktuellen Reifenfülldruck informiert übrigens eine Digitalanzeige im Cockpit.
Auch bei den Bremsen gibt sich die Kawasaki keine Blöße. Die modischen Wave-Bremsscheiben werden vorn von den gleichen radial montierten Stoppern gut dosierbar in die Zange genommen, die auch in der ZZR 1400 sehr packend Dienst tun. Das serienmäßige, vorn und hinten unabhängig arbeitende ABS greift im Vorderrad erst sportlich spät ein. Das Hinterrad-ABS regelt bei der tourertypisch hecklastigen GTR dagegen etwas zu lässig und dürfte noch etwas aggressiver sein. Kleine Verbesserungswünsche gibt es auch für den Soziusplatz. Der Sitzplatz ist okay, nur liegen die Haltegriffe zu weit zurück, und Soziusrasten ohne Gummiauflage sind ebenfalls nicht der Weisheit letzter Schluß.
Die GTR 1400 ist nicht bis ins letzte Detail als Tourer durchgestylt, man merkt ihr an vielen Stellen die sportliche Abstammung an. Das muß kein Nachteil sein, doch wer den Kilometerfresser sucht, mit dem sich tagelang zu zweit und mit viel Gepäck über die Autobahn düsen läßt, wird woanders vermutlich besser bedient. Die Meßlatte höher gelegt hat die GTR auch nicht, bestenfalls verschoben, wenn es um Tourerqualitäten abseits der Autobahn, speziell in sehr kurvigen Gefilden geht. Dort ist die in Schwarz und Silber lieferbare Grüne der Konkurrenz tatsächlich etwas voraus. Tourenfahrer, die sich noch gern an alte Zeiten als Sportpilot erinnern, bekommen mit der GTR einen sehr fahraktiven, gut ausgestatteten und ebenso gut verarbeiteten Reisepartner, der auch noch in einigen Jahren eine gute Figur machen wird. Mit dem dritten Versuch kann sich Kawasaki jedenfalls sehr viel Zeit lassen.