aus bma 02/97

von Klaus Herder

Yamaha TT 600 E/SFrüher war alles viel einfacher: japanische Motorräder waren nach 30.000 km am Ende, Engländer ölten, und die Verarbeitung italienischer Bikes entsprach der lässigen Lebensart des Südländers. Noch viel leichter als die Beurteilung der Maschinen war die Katalogisierung ihrer Fahrer: Auf einer BMW saßen echte Windgesichter, auf eine Harley gehörten keine Warmduscher und Enduros galten als die wahren Männer-Motorräder. Heutzutage ist alles viel komplizierter. Nicht genug damit, daß moderne Motorräder mittlerweile relativ problemlos sechsstellige Laufleisungen erreichen und auch nur noch selten unter sich machen. Nein, auch die Fahrer sind nicht mehr das, was sie mal waren. Der des Schraubens kundige Ganzjahresfahrer vom Typ „Ey Alter, meine Strich-Fünf hab‘ ich Ende Januar am Polarkreis mit dem Eßbesteck repariert” ist mega-out. Um Motorradfahren zu dürfen, muß man/frau (!) sich heutzutage nicht mehr dreckige Fingernägel und abgefrorene Gliedmaßen holen. Fast jeder kann und darf es, und entsprechend vielschichtig ist auch das Angebot an fahrbaren Untersätzen.
Am stärksten fällt das bei den Geländegängern auf. Ein E-Starter galt für die Stollenritter vor gar nicht langer Zeit als Teufelszeug. Echte Kerle wollten Kicken. Das sah dann im Hochsommer mit vollbepackter Maschine und abgesoffenem Motor meist sehr putzig aus. Schade, auf ein solches Spektakel müssen wir in Zukunft wohl immer öfter verzichten. Die Front der Kickstarter-Puristen weicht auf. Die letzten Bastionen fallen in diesem Jahr: Husqvarna, Husaberg, KTM – alle sind ab 1997 wahlweise auch mit E-Starter lieferbar.

 

Yamaha TT 600 E/S Als eine der wenigen „echten” Hard-Enduros aus Japan galt lange Zeit die Yamaha TT 600. Das auf der bereits 1982 präsentierten XT 550 basierende Puristen-Gerät galt über zehn Jahre lang als Geheimtip für alle Kiesgruben-Freaks, denen die Europäer zu teuer und/oder zu anfällig waren. Der italienische Yamaha-Importeur Belgarda sorgte 1993 dafür, daß eine TT-Neuzeit anbrach. Den Motor übernahmen die Italiener aber nahezu unverändert. Für eine umfangreiche Herzoperation gab es auch keine Veranlassung, denn der luftgekühlte Viertakt-Einzylinder war mit seinem Vierventilkopf, einer Ausgleichswelle und einem Registervergaser immer noch auf der Höhe der Zeit. Der unten offene Stahlrohrrahmen mußte sich nur in Sachen Geometrie leichte Änderungen gefallen lassen. Dafür tat sich bei den Anbauteilen umso mehr: Die Feder- und Dämpfungsarbeit an der Frontpartie übernahm eine in Zug- und Druckstufendämpfung einstellbare Upside-down-Gabel. An der Hinterradschwinge kam ein edles Öhlins-Federbein zum Einsatz, und für ausreichende Verzögerung sorgten Brembo-Stopper. Besonders viel Wert legte Belgarda auf die Verbesserung der Alltagstauglichkeit. Eine verbesserte Lichtanlage und ein kombiniertes Zünd/Lenkschloß waren neben dem neuen Design die auffälligsten Veränderungen.
Yamaha TT 600 E/S Die alten TT-Tugenden blieben erhalten. Der mit spürbaren aber nicht unangenehmen Vibrationen arbeitende Eintopf springt immer zuverlässig an und überzeugt besonders in den unteren Drehzahlregionen mit einer ungemein gleichmäßigen Leistungsabgabe. 41 PS aus knapp 600 ccm Hubraum sind ein gesunder Wert, der ordentliche Durchzug der TT entspricht den Erwartungen, die man bei einem solch üppigen Eintopf haben darf. Hochtouriges Fahren mag der Yamaha-Antrieb weniger, er wirkt dann zäh und angestrengt. Um flott unterwegs zu sein, bedarf es aber auch gar keiner Drehzahlorgien. Wer frühzeitig im leicht und exakt zu schaltenden Fünfgangetriebe rührt, kommt streßfrei und trotzdem schnell voran – im Extremfall immerhin mit knapp über 150 km/h.
Anstrengend wird es nur, wenn Stop-and-go-Verkehr oder trialmäßige Passagen angesagt sind. Der Sprung zwischen dem ersten und dem zweiten Gang ist etwas groß ausgefallen, und der Kupplungshebel verlangt zu allem Überfluß auch noch nach einem sehr beherzten Zupacken. Dank fehlender Kühler ist der mögliche Lenkeinschlag sehr groß, das relativ hohe Gewicht von 156 kg macht das Umrunden enger Kehren dann aber doch zu einer Aktion, bei der ordentlich Körpereinsatz gefragt ist. Kurz gesagt: Die TT ist etwas schwerfällig. Sehr viel wohler fühlt sie sich auf zügig zu fahrenden Schotterpisten und im leichten bis mittelschweren Gelände. Die Grund-Abstimmung der Federelemente ist straff, die der theoretisch für zwei Personen zugelassenen Sitzbank eher brutal hart. Wer es crossmäßig knacken läßt, bringt mit etwas schlechtem Willen die Upside-down-Gabel zum Durchschlagen. Das Öhlins-Edelteil am Heck zeigt sich selbst bei derben Sprüngen deutlich widerstandsfähiger.
Yamaha TT 600 E/S Die italienisch-japanische TT 600 ist seit 1994 im offiziellen Angebot des deutschen Importeurs. Und das in den ersten beiden Jahre so ganz ohne E-Starter. Zwerge und Weicheier sollten sich gefälligst die softere XT 600 E kaufen. Ab 1996 wurde dann aber alles viel komplizierter. Offensichtlich fanden sich nicht genug Muskelmänner, die sich für die TT 600 begeistern konnten. Und so wurde aus der TT 600 die TT 600 S mit einem „S” wie „Sport”. Als neues Modell kam zusätzlich die TT 600 E mit einem „E” wie „E-Starter” ins Programm. Das elektrische Helferlein mitsamt größerer Batterie macht die TT rund vier kg schwerer.
Höheres Gewicht, niedrigerer Preis – das geht, zumindest bei der TT 600, denn neben dem Mehr in Sachen Bedienungsfreundlichkeit gab es auch ein Weniger in Sachen Ausstattung. Die Kayaba-Gabel und das Öhlins-Federbein der „S” wichen an der „E” etwas einfacheren Teilen von Paiolo. Die Federwege fallen geringer aus. Wo bei der „S” noch 310 und 270 mm zur Verfügung stehen, sind es bei der „E” nur noch 270 und 209 mm. Netter Nebeneffekt für Kurzbeinige: die Sitzhöhe reduzierte sich dadurch von üppigen 920 auf immer noch beachtliche 890 mm. Die Geländetauglichkeit sank allerdings auch. Wo die „S” auf Wellblechpisten noch sauber ihre Bahn zieht, wird die „E” sehr schnell zum Breakdancer. Die komfortablere Abstimmung und das höhere Gewicht der „E” sind Schuld daran. Wer allerdings nicht ständig in der Sahara oder auf Moto Cross-Pisten herumtobt, wird den Unterschied fasst gar nicht merken. Geländetauglicher als die meisten überfetteten Reise-Enduros ist auch die TT 600 E allemal.
Sowohl TT 600 S als auch die TT 600 E sind mit einem sehr soliden Bodenblech bestückt, das den Single wirksam vor spanabhebenden Tätigkeiten schützt. Stahlflex-Bremsleitungen werden ebenfalls an beiden Modellen verbaut. Das ändert aber nichts an der mittelmäßigen Qualität der Scheibenbremsen in Vorder- und Hinterrad. Der vordere Stopper verlangt viel Handkraft, sein hinterer Partner gibt sich dafür ziemlich giftig. Deutlich mehr Mühe haben sich die Yamaha-Verantwortlichen bei der Auswahl und Gestaltung diverser Anbauteile gegeben. Für Felgen und Hinterradschwinge kommt an beiden Modellen Leichtmetall zum Einsatz; die 12 Liter Normalbenzin sind in einem Kunststofftank untergebracht, der bei durchaus flotter Fahrweise nach rund 200 Kilometer neu befüllt werden muß. Kleiner Fauxpas am Rande: der Reservehahn ist rechts montiert – sehr „sinnvoll”, wenn die Kiste keinen Sprit mehr bekommt und man die rechte Hand eigentlich lieber am Gasgriff lassen würde.
Praxisgerechter sind die gezahnten Fußrasten und der Auspuffkrümmer aus Edelstahl. Das Luftfilterelement läßt sich ohne Werkzeug tauschen und auch die Startnummerntafeln können ohne Schrauberei abgenommen werden. Einen Drehzahlmesser gibt’s nicht. Den braucht auch niemand, denn der Einzylinder macht auch so schnell deutlich, in welchen Drehzahlregionen er sich wohlfühlt. Das Kettenspannen ist schnell erledigt, ein Exzenter sorgt für die richtige Einstellung.
Die TT 600 S ist auf den ersten Blick an ihren blau eloxierten Felgen zu erkennen, ihren Aluminium-Lenker sieht man vielleicht nicht sofort. 10.590 Mark kostet die „S”. Sie ist zwar kein reinrassiges Wettbewerbs-Gerät, dafür aber eine gut gemachte Sport-Enduro, die ihr Kürzel zu Recht trägt. Die TT 600 E kostet genau 600 Mark weniger. Für den Hobby-Enduristen, der nur selten ins Gelände geht, ist sie nicht nur die preiswertere, sondern auch die bessere Wahl. Doch was ist denn nun unter „Gelände” zu verstehen? Und wie häufig ist „selten”? Yamaha macht die Qual der Wahl nicht gerade leichter. Früher gab es nur eine XT 500. Früher war eben alles viel einfacher.