aus bma 12/00

von Klaus Herder

Nach spätestens 30 Minuten Testfahrt war es meist so weit: Krrratzzz. Die Fußraste, in jüngerer Vergangenheit auch immer öfter das Trittbrett, gab Laut. Die spanabhebende Tätigkeit betraf fast immer die rechte Seite, denn Rechtskurven kann ich nun mal besser. Im nachfolgenden Fahrbericht war dann sehr sachlich von „geringer Schräglagenfreiheit” oder etwas blumiger von „frühzeitig in Aktion tretenden Schräglagenbegrenzern” die Rede. Der Leser erfuhr dann, dass sich der Cruiser X oder der Chopper Y nur bedingt als Kurvenhobel eignete. Ob er das auch wirklich wissen wollte? Diese Frage kam mir erst später und auch nur durch Zufall in den Sinn. Yamaha XV 1600 WildStar An einem handelsüblichen Motorradtreffpunkt tat ich das, was Motorradtreffpunkt-Besucher am liebsten tun: um die geparkten Maschinen herumschleichen und auf die Gelegenheit zur Abgabe fachmännischer Kommentare lauern. Diese Gelegenheit bot sich leider nicht direkt, und aus lauter Langeweile schaute ich mir speziell die in nicht unerheblicher Zahl anwesenden Cruiser mal etwas genauer an. Über die meist recht kantig abgefahrenen Reifen wanderte mein Blick in Richtung Rasten. Die Überraschung: Keine, nicht eine Einzige war angeschliffen. Und das auch bei Maschinen, die nach meiner Erfahrung beim flotten Einbiegen auf den Treffpunkt-Parkplatz garantiert ein hässliches „Krrratzzz” hätten von sich geben müssen. Das Thema Schräglagenfreiheit schien ihre Fahrer noch nicht mal ansatzweise zu interessieren. Aus dieser Erkenntnis ziehe ich die Konsequenz und werde im Zusammenhang mit chrombehangenen Einspurautos nie mehr das Thema Schräglagenfreiheit erwähnen. Ich gehe sogar noch weiter und wage an dieser Stelle die Behauptung, dass Cruiser-Fahrer nur eine einzige Sache wirklich interessiert: so amerikanisch wie irgend möglich aufzutreten, möglichst amerikanischer als das amerikanische Original. Und das heißt nun mal Harley-Davidson. Der beste Beweis dafür ist das Aushängeschild japanischer Cruiser-Kultur: die Yamaha XV 1600 Wild Star.

 

Ende 1998 präsentierte Yamaha das hubraumstärkste Motorrad der Firmengeschichte. Geradezu rührend bemühte sich die achtseitige Pressemitteilung zur Markteinführung das Wild Star-Konzept überwiegend technisch zu begründen. Ähnlichkeiten mit bestehenden Konstruktionen sind demnach purer Zufall. Der Harley-Twin hat schließlich 45 Grad Zylinderwinkel, der ebenfalls luftgekühlte Yamaha-Vauzwo bringt es auf 48 Grad – das sieht man doch auf den ersten Blick. Zwei untenliegende Nockenwellen, Stößelstangen, Hydrostößel – okay, das bietet Harley auch, aber bei Yamaha dient die Konstruktion eigentlich nur dazu, eine möglichst geringe Bauhöhe des Motors zu ermöglichen. Extrem langhubige Auslegung, Zahnriemen als Hinterradantrieb, zwei rechtsseitig verlegte Schalldämpfer – alles ist technisch vermutlich unbedingt notwendig. Softail heißt das an einen Starrahmen erinnernde und dabei versteckt gefederte Rahmenheck nur bei Harley, bei Yamaha sieht’s dafür genauso aus – welch ein Zufall.
Doch da die Zeiten plumpen Eins-zu-eins-Kopierens seit etwa 35 Jahren vorbei sind und damit die Wild Star-Fahrer bei „Benzingesprächen” (welch dämliches Wort) auch etwas auf den Putz hauen können, bietet die XV 1600 von allem noch etwas mehr: mehr Zündkerzen (vier statt zwei), mehr Ventile (vier statt zwei je Zylinder), mehr Hub (113 statt 101,6 mm) und natürlich mehr Hubraum (1602 statt 1449 ccm) sowie mehr Drehmoment (134 statt 109 Nm). Leistungsmäßig liegt Yamaha mit bescheidenen 63 PS annähernd auf Harley-Niveau, Nennleistung und Drehmoment stehen bei der Wild Star dafür bei deutlich geringeren Drehzahlen an – mehr Bums aus dem Keller also.Yamaha XV 1600 WildStar Zumindest theoretisch.
Praktisch klappt der Kaltstart ganz hervorragend. Für die Gemischaufbereitung sorgt ein konventioneller Vergaser (Hoppla, sollten wir in Japan übersehen haben, dass Harley bei einigen Modellen bereits Einspritzanlagen und Katalysatoren verbaut?). Der dazugehörige Chokehebel versteckt sich ebenso stilecht wie blödsinnig links unter der Hupe, muss aber nur kurz aktiviert bleiben. Geschaltet wird mit einer Schaltwippe. Das macht zwar etwas Geräusche, die fünf Gänge finden aber trotzdem leicht und exakt die gewünschte Position. Die Kupplung lässt sich selbst von Weichgreifern problemlos bedienen.
Satte 335 Kilogramm wiegt die mit 20 Litern Normalbenzin vollgetankte Wild Star. Das ist beim Rangieren etwas hinderlich, jenseits von 30 km/h aber nur selten spürbar. Der breite Schubkarrenlenker und der tiefe Schwerpunkt sorgen dafür, dass sich schnell Vertrauen einstellt. In den ersten drei Gängen geht es flott voran, Stufe Vier und Fünf sind dafür recht lang übersetzt, bei Tempo 100 stehen im letzen Gang gerade mal 2300 U/min an. Übermäßig durchzugsstark ist die Wild Star aber nicht. Jedenfalls nicht, wenn man nur den Wert 1600 ccm im Hinterkopf hat. Die 63 PS für 335 Kilogramm plus Besatzung dürfen nicht vergessen werden. So erklärt sich auch, dass der Verbrauch auch mit sehr viel gutem Willen nicht unter fünf Liter zu drücken ist. Dynamischer Landstraßenbetrieb kostet zwischen sechs und sieben Liter. Die in den Tacho integrierte Benzinuhr taugt nur als grobes Schätzeisen, die digital anzeigende Zeituhr arbeitet selbstverständlich korrekt.
Yamaha XV 1600 WildStarDie Sitzposition wirkt in der ersten Stunde noch recht angenehm, doch spätestens eine Stunde später ist es mit der Gemütlichkeit vorbei. Die tiefe Kuhle bietet zu wenig Variationsmöglichkeiten, die extrem breit- beinige Sitzposition ist ergonomisch auch keine Offenbarung. Der Sound ist dafür ein Genuss: Kerniges Prötteln, leicht unrunder Leerlauf – das klingt allemal besser als eine serienmäßige Deutschland-Harley. Ein paar deftige und dabei durchaus angenehme Vibrationen gibt’s auch serienmäßig – das haben die Ingenieure fein hingekriegt.
Die Fahrwerkstechniker erledigten ihre Hausaufgaben ebenfalls tadellos. Telegabel und Zentralfederbein sind für Cruiserverhältnisse straff abgestimmt und halten das Dickschiff jederzeit satt auf der Bahn. Die Doppelscheibenbremse im Vorderrad benötigt zwar eine kräftig zupackende Rechte, hat dann aber keine Schwierigkeiten, die Bewegungsenergie innerhalb kürzester Zeit in Wärmeenergie umzuwandeln. Die hintere Soloscheibe unterstützt dabei recht wirksam. Muss sie auch, lasten doch 53 Prozent der Masse auf der Hinterhand.
Die Yamaha XV 1600 Wild Star kostet ab Modelljahr 2001 inklusive Nebenkosten 22.500 Mark. Das sind 2500 Mark mehr als bei der Markt-einführung Anfang 1999. Für 25.000 Mark trägt der Cruiser den Namenszusatz Silverado und ist mit Windschutzscheibe, Lederpacktaschen und Sissybar ausgestattet. Die Wild Star ist kein Blender. Was bei ihr nach Metall aussieht, ist auch aus Metall. Die Verarbeitung fällt tadellos aus, zwei Jahre Garantie sind ein Wort. Die Yamaha kann fast alles besser als eine vergleichbare Harley und sie ist ihr Geld wert. Die Wild Star hat nur ein Problem: Sie ist zu gut. Vielleicht interessieren sich Cruiserfahrer genauso wenig für Perfektion wie sie sich für Schräglagenfreiheit interessieren.