aus bma 10/99

von Klaus Herder

Yamaha XJR 1300 (Mod. 1999)Da sitzt man nichtsahnend vor der Glotze, zappt ein wenig hin und her, und plötzlich beschert einem der späte Sonntagabend Mad Max. Der ersten Teil natürlich. Das Original. Doch 21 Jahre nach dem Kinostart wird mir erst jetzt dabei bewußt, welch gnadenlos dünne Handlung der australische Kultstreifen eigentlich bietet. Wir erinnern uns: Ein penetrant freundlicher Verkehrspolizist verliert alles, was ihm lieb und zu Weihnachten auch teuer ist. Seinen furchtbar kumpelhaften Arbeitskollegen und besten Freund, seine gnadenlos sympathische Frau und sein schrecklich niedliches Kind. Schuld daran ist eine sich nur bedingt an Verkehrs- und sonstige Regeln haltende Motorrad-Gang.
Womit wir bei meinem veränderten Sehverhalten wären. Früher fand ich den ziemlich tuntige Lederjacken tragenden Bullen klasse. Mittlerweile gehört meine Sympathie den sich leicht asozial gebenden Bikern. Die Jungs sehen mit ihrem Fell-Fummel und den fiesen Steinzeit-Integralhelmen zwar auch ziemlich scheiße aus, aber sie fahren wenigstens geile Motorräder. Unverkleidete, hubraumstarke, schnelle und böse Motorräder. Kawasaki Z 900 zum Beispiel.

 

Yamaha XJR 1300 (Mod. 1999)Sollte es jemals eine Mad Max-Neuverfilmung geben, müßte der gute Bulle eigentlich auch ein Motorrad – und zwar ein noch böseres – fahren, um in meiner Sympathie-Hitparade wieder Chancen zu haben. Den Film gibt’s noch nicht, aber das passende Bike kann Otto Normalmadmax für 16.290 Mark kaufen: Yamaha XJR 1300. Das sind satte 253 Kilogramm Big Bike, die bereits im Stand so ehrfurchtsgebietend wirken, dass selbst Heißsporne kaum Gefahr laufen, das Urviech im Fahrbetrieb zu unterschätzen. Vor der XJR hat jeder erst einmal eine gehörige Portion Respekt. Sie ist die vorerst letzte Vertreterin einer Reihe luftgekühlter Yamaha-Reihenvierzylinder, die zu ihrer Zeit die jeweilige Hubraumspitze darstellten. Das fing mit der XS 1100 an, ging über die FJ 1100 und 1200 weiter und sah ab 1995 mit der XJR 1200 schon fast so wie heute aus. In vier Jahren konnten sich in Deutschland rund 7000 Genußmenschen für die Wuchtbrumme erwärmen, die so wunderbar die Motorrad-Eigenarten der späten 70er Jahre konservierte: brutal drückender Motor, leicht überfordertes Fahrwerk.
Da der motorradbauende Japaner ja auf Kritik und veränderte Marktbedingungen ungemein schnell reagiert, präsentierte Yamaha bereits vor knapp zwei Jahren die Nachfolgerin der 1200er. Zwei Millimeter mehr Bohrung, geschmiedete anstelle gegossener Kolben, verstärkte Pleuel und keramikbeschichtete Leichtmetall- statt schwerer Gußlaufbuchsen machten den ohnehin schon grundsoliden Motor noch standfester. Der Hubraumzuwachs auf 1251 ccm erlaubte die großzügige Aufrundung zur Typenbezeichnung XJR 1300. Kennfeldzündung und Drosselklappensensor sollten die Gasannahme verbessern.
Dem gescholtenen Fahrwerk wiederfuhr ebenfalls Gutes: Der überdimensionierte 130er Vorderrad-Pneu mußte einem Zielgenauigkeit und Stabilität garantierenden 120er Platz machen, hinten wuchs die Walzenbreite dafür von 170 auf 180 Millimeter. An 17 Zoll Raddurchmesser vorn wie hinten änderte sich nichts. Voll einstellbare Öhlins-Federbeine sollten dafür sorgen, dass am Heck komfortable Ruhe einkehrte.
Yamaha XJR 1300 (Mod. 1999)Als sich dann Mitte 1998 die ersten XJR 1300 in der Praxis bewähren mussten, wurde zwar weiterhin die viel zu weich abgestimmte und frühzeitig abtauchende Vorderradgabel kritisiert, für den Rest gab’s aber durchweg Lob: Noch druckvoller, noch handlicher, noch komfortabler und fahrstabiler – nur leider nicht für Deutschland. Über den offiziellen Importeur war die XJR 1300 nämlich noch nicht zu bekommen. Es waren mal wieder die Parallel- (Grau-)Importeure, die die neue Dicke ins Land brachten. Über Yamaha Deutschland ist die 98 (offiziell 106) PS starke Druck-Maschine erst seit dem Modelljahr 1999 zu bekommen. Dadurch wurde die XJR zwar knapp 3000 Mark günstiger, musste bei der Ausstattung aber auch etwas Federn lassen. Die tollen Luxus-Federbeine machten nur noch in der Federbasis verstellbaren Standard-Teilen Platz, was die XJR 1300 in Sachen Hinterradführung wieder dahin zurückbrachte, wo bereits die XJR 1200 war. Wer übrigens 500 Mark mehr ausgibt, bekommt bei der SP-Version neben einer Replica-Lackierung und einer abgesteppten Sitzbank auch zwei andere Federbeine, auf denen zwar Öhlins draufsteht, die qualitativ aber näher an die mäßigen Standardteile als an die edlen Schwedenhappen der Auslandsversion heranreichen.
Yamaha XJR 1300 (Mod. 1999)Doch was schert den XJR-Fan kleinliches Geschwafel über Fahrwerkskomponenten? Das Ding heißt schließlich XJR 1300 und nicht XJR Öhlins. Einskommadrei Liter Hubraum, 100 Nm Drehmoment – das bedeutet in der Praxis Druck bis zum Abwinken. 1000 Umdrehungen genügen vollauf, um den Gasgriff sauber durchzuziehen und dann nur noch zu grinsen. Ist es das imaginäre Gummiband, der legendäre Tritt in den Arsch? Egal, irgendetwas reißt dermaßen brutal voran, dass es einem das Gesicht über beide Ohren zieht. Kein Ruckeln, kein Verschlucken, erster Gang zum Anfahren, danach geht alles im fünften und damit letzten. Dieses Motorrad hat keine Verkleidung, dieses Motorrad wiegt über fünf Zentner – und trotzdem: drei Sekunden von 0 auf 100, rund 13 Sekunden bis zur 200er Marke, echte 230 Ka-Emm-Ha Spitze.
Noch Fragen, Kienzle? Ja, Hauser: Wie schaffte es Yamaha, einen Dragster für die Straße zuzulassen? Wir wissen es nicht, und wir wollen es auch gar nicht wissen, denn im Unterschied zur uramerikanischen Quartermile folgt auf bundesdeutschen Beschleunigungsstrecken meist ein kurviges Stück Asphalt, und der XJR-Treiber hat genug damit zu tun, die Schub-Karre angemessen zu verzögern. Als Stopper verbaute Yamaha die aus der YZF-R1 bekannten einteiligen Vierkolbensättel. Und die beißen kräftig und sehr gut dosierbar in die beiden 298-Millimeter-Scheiben. Die Dinger sind nichts für Zweifinger-Bremser, zupackende Charak- tere werden mit ihnen aber wunderbar klarkommen.
Damit es im Kurvengeschlängel nicht zu langweilig wird, begrenzten die Yamaha-Konstrukteure spürbar die Schräglagenfreiheit. Rechts herum fangen die Rasten frühzeitig mit der spanabhebenden Tätigkeit an, der Auspuff folgt kurz darauf. Links herum sorgt der unter Masseverlust leidende Hauptständer für das Oi- oioioi-Gefühl. Nun ja, australische Bad Boys oder Mad Mäxe verschlägt es eher selten in den Schwarzwald und überhaupt: Was erstmal weggeschliffen ist, kann später auch nicht mehr aufsetzen.
Damit wir uns richtig verstehen: Die XJR ist alles andere als gefährlich, ihre Kraft sorgt eher für einen lässigen, ruhigen Fahrstil, der aber nie in Chopper-Schlafmützigkeit abgleitet. Die Sau läßt der XJR-Treiber allerhöchstens mal auf übersichtlichen Geraden raus. Da macht es dann auch besonders viel Spaß, wenn sich der Griff der zuvor schläfrig auf der extrem bequemen Sitzbank lümmelnden Sozia schlagartig und heftigst verkrampft. XJR 1300-Fahren macht zu zweit ohnehin viel mehr Spaß. Besonders deshalb, weil man sich dann die Tankrechnungen teilen kann. Die dicke Yamaha fackelt auf 100 tollen Kilometern nämlich locker zwischen sieben und acht Liter Normalbenzin aus ihrem 21 Liter-Tank ab. Dragster brauchen zwar noch mehr, aber dafür kosten die auch keine Versicherung und Steuer – haben allerdings auch kein so gutes Licht und keine praktischen Gepäckhaken.
Ach ja, fast hätte ich das wichtigste vergessen: die XJR 1300 gibt es glücklicherweise auch in Schwarz. Oder können Sie sich vorstellen, dass Mad Max das Ding lieber in Silber oder einer der beiden kunterbunten SP-Replica-Lackierungen fahren möchte? Ich auch nicht.