aus bma 08/08
von Klaus Herder
Sie ist dicker geworden, aber nicht unsympathischer. Damit dürfte es der Ténéré ähnlich wie vielen ihrer Fans gehen. Doch der Reihe nach: Vor ziemlich genau 25 Jahren erblickte Yamahas Über-Enduro das Licht der Wüstenwelt. Nicht etwa im Norden des Staates Niger und in der Ténéré, der „Wüste der Wüsten”, sondern in Marokko.
Die Ténéré (was in der Sprache der Tuareg „Land da draußen” oder einfach nur „Wüste” heißt) mußte trotzdem als Namenspatronin herhalten, denn Yamaha brauchte 1983 dringend ein sportliches Enduro-Modell. Und „Ténéré” stand für Sportlichkeit, gehörte dieser Sahara-Teil doch zum festen Programm der Rallye Paris-Dakar, bei der besonders das französische Yamaha-Werksteam regelmäßig auf vorderen Plätzen herumtobte.
Mit der XT 550 als XT 500-Nachfolgerin hatte Yamaha ab 1982 aber ein Modell im Programm, das imagemäßig herzlich wenig beschickte. Sie war nicht so kultig wie ihre Vorgängerin, sie war nicht besonders auffällig, sie war einfach nur da und drohte zum Flop zu werden. Yamaha reagierte prompt und erweiterte das Angebot um die XT 600 Ténéré (Typ 34L) mit dem aufgebohrten Vierventiler der XT 550. Die Ténéré wurde mit ihrer Kriegsbemalung, dem fetten 29-Liter-Tank, mit ihren für damalige Verhältnisse ordentlichen 44 PS und mit einem Kampfgewicht von VOLLGETANKT 169 kg auf Anhieb zum meistverkauften Motorrad Europas. Knapp 90 cm Sitzhöhe und der Verzicht auf einen E-Starter paßten bestens zum Harte-Männer-Image.
Ab 1986 wollte Yamaha alles noch viel besser machen, doch die zweite Ténéré entpuppte sich als eine gewaltige Verschlimmbesserung: E-Starter und reduzierte Sitzhöhe verwässerten das Image; das höhere Gewicht und der kleinere Tank machten sie weniger wüstentauglich; und – was am schlimmsten war – massive Kühlprobleme sorgten beim Typ 1VJ für jede Menge kapitaler Motorschäden. Yamaha besserte fleißig nach, doch der Ruf war ruiniert. Die 1988 präsentierte Drittauflage (3AJ) mit rahmenfester Halbverschalung und Doppelscheinwerfer machte dann wieder einen guten Job, doch an die Erfolge der Ur-Ténéré kam sie nicht heran. Das schaffte auch die 1991 eingeführte XTZ 660 Ténéré nicht mehr. Wasserkühlung, Fünfventil-Zylinderkopf – alles schön und gut, aber für die Wüste brauchte das eigentlich niemand. Und daß die Fuhre mit 20 Litern betankt satte 201 Kilo auf die Waage brachte, brauchte auch niemand. Die erschreckend müde und harmlose 660er wurde von den Ténéré-Fans der ersten Stunde nie richtig ernst genommen. Sie hielt sich dennoch bis Ende 1998 in der offiziellen Preisliste und als Standuhr noch sehr viel länger in den Verkaufsräumen mancher Yamaha-Händler. Knapp zehn Jahre lang gab’s dann (zumindest offiziell) keine neue Ténéré mehr, was dem Mythos aber nicht schadete. Ganz im Gegenteil.
Retro ist jetzt wieder ganz schwer angesagt. Die Ü-35-Generation erinnert sich mit einer gehörigen Portion Verklärung an die gute alte Zeit, an die ersten Motorradurlaube und an eine Technik, die noch übersichtlich und leicht zu beherrschen war. Die Zeit war reif für die neue Ténéré, die – welch Zufall – der Presse erneut in Marokko und schon wieder nicht in der Ténéré präsentiert wurde. Was da in Weiß, Khaki oder Schwarz auf Stollenreifen im Trennscheibenformat (90/90-21 vorn, 130/80-17 hinten) steht, ist tatsächlich etwas Neues. Zumindest ist es keine mit Hilfe von etwas Plastikschnickschnack auf Rallye getrimmte XT 660 R, die bereits seit 2004 mit überschaubarem Erfolg für Yamaha die Enduro-Flagge hoch hält. Der frühzeitige Blick aufs Datenblatt läßt dann aber erste Zweifel aufkommen, ob es Yamaha mit dem Fortschreiben der Ténéré-Erfolgsgeschichte tatsächlich so richtig ernst ist: 183 kg Trockengewicht. Das macht mit Öl, Kühlmittel und 23 Litern Kraftstoff satte 211 kg Kampfgewicht – 42 kg mehr als bei der Ur-Ténéré. Okay, mit Luftkühlung, katalysatorfreier Vergasertechnik, Kick- statt E-Starter und Einzel-Bremsscheibe im Vorderrad wäre heute kein Staat mehr zu machen, aber mußte es denn gleich das Vollfett-Programm sein? Gemach, entscheidend ist nicht die Papierform, was interessiert, sind die gefühlten Kilos.
Und da sieht die Ténéré-Welt schon viel freundlicher aus. Der bis unter den Fahrerplatz reichende 23-Liter-Tank baut angenehm schmal, die mit 895 mm Sitzhöhe aufwartende Bank hat ebenfalls keine Überbreite, und auch die verdächtig nach Lego- oder Playmobil-Design aussehende Cockpitverkleidung verdirbt nicht die schlanke Linie. Von der luftigen Sitzhöhe bleibt nach dem Platznehmen nur noch soviel übrig, daß Menschen über 1,75 m sehr sicheren Stand finden. Ob einen die Unterbringung in einer Sitzbank-Kuhle gefällt, ist reine Geschmackssache. Wer seine Sitzposition gern öfter variiert, wird sich ein flacheres Sitzmöbel wünschen. Die Freunde einer „vollintegrierten” Unterbringung sind auf/im Serien-Sitzmöbel goldrichtig untergebracht.
Der von einer elektronischen Benzineinspritzung befeuerte ohc-Single zeigt beste Startmanieren. Der Motor stammt praktisch unverändert aus der XT 660 R, bezieht seine Frischluft aber über eine vergrößerte Airbox und läßt sein Kühlmittel durch einen vergrößerten Kühler laufen. Die Kritik an der Krümmer-Führung bei der XT nahm Yamaha ernst, die Ténéré-Krümmer sind nun seitlich und nicht mehr unterm Motor verlegt. Das schafft Bodenfreiheit und schont die Sturzteile-Kasse. Die Leistungs- und Drehmomentwerte von normaler XT und Ténéré unterscheiden sich nur minimal. Die Ténéré leistet exakt 48,4 PS bei 6100 U/min und stemmt maximal 57,5 Nm bei 5500 U/min (XT 660 R: 48 PS bei 6000 U/min, 60 Nm bei 5250 U/min). In der Praxis ist der Eintopf genau das, was er immer schon war: Kreuzbrav. Das mag gehässig klingen, ist aber gar nicht so gemeint. Wer noch nie Bekanntschaft mit einem (deutlich teureren) KTM-Single oder auch nur mit dem Motor der (ebenfalls teureren) BMW G-Modelle gemacht hat, wird den Yamaha-Einzylinder recht sympathisch finden. Unspektakulär, also eher lässig und kein bißchen krawallig, schiebt der Kurzhuber ab 2500 U/min ruckfrei an, wird knapp über 3000 U/min durchaus munter und fühlt sich zwischen 4000 und 5500 richtig wohl. Darüber hinaus kann man drehen, muß es aber nicht. Bei 7000 U/min läßt es der mit einem spielend leicht zu betätigenden Fünfganggetriebe kombinierte Einzylinder gut sein. Spürbare Vibrationen gibt’s eher wenig. Wenn überhaupt, kommt oberhalb von 5000 U/min etwas Kribbelei durch. Und das auch nur so viel, daß man über das Konstruktionsprinzip des Motors nicht im Unklaren gelassen wird.
Wer die Ténéré partout ausquetscht, treibt die übersichtliche Tachoanzeige auf 170 km/h, was echten 165 km/h entsprechen dürfte. Bei diesem eigentlich Ténéré-unwürdigen Tempo läuft die Fuhre immer noch erfreulich stur geradeaus. Wer in flatternder Textiljacke hinterm breiten Lenker und der recht ordentlich schützenden, haushohen Verkleidung hängt, bringt eventuell leichte Unruhe ins Wüstenschiff, doch mehr als ein ganz leichtes Pendeln ist auch dann nicht zu verspüren. Wer noch die ganz alte Ténéré kennt, wird das ganz besonders erfreut zur Kenntnis nehmen. Das Urmodell mit seinen butterweichen Federelementen vollführte bereits bei Autobahn-Richtgeschwindigkeit manch ungewolltes Tänzchen. 25 Jahre Fortschritt in Sachen Fahrwerkstechnik machen sich dann glücklicherweise doch bemerkbar. Zur Ehrenrettung der alten Dame sei aber verraten, daß die anno 1983 auch mit üppigen 255 mm vorn und 235 mm hinten als Federweg über die Bahn schaukelte. Die Ur-Enkelin muss mit 210 und 200 mm auskommen. Tut sie auch, denn die aus-schließlich in der Federbasis verstellbaren Federelemente sind mit einer ziemlich straffen Grundabstimmung versehen. Das Sachs-Federbein wird meist erst dann aktiv, wenn’s wirklich dicke für die Alu-Schwinge kommt. Auf kürzere Stöße reagiert das Heck nun etwas störrisch. Die Telegabel arbeitet da ein Stück sensibler, läßt sich von der gut dosierbar und auf Wunsch recht kräftig zupackenden Doppelscheiben-Bremsanlage aber auch nicht auf Anschlag zwingen. Wer über 80 Kilo auf die Waage bringt und/oder mit einem durchaus bequem untergebrachten Sozius unterwegs ist, wird über die Fahrwerksabstimmung jedenfalls kaum meckern können.
Stichwort Unterbringung: Da spielt die Ténéré ihre ganz großen Stärken aus. Sauberer Knieschluß im Sitzen wie im Stehen, ein selbst für Langbeiner sehr entspannter Kniewinkel, goldrichtige Sitzbank-Breite und -Polsterung, freier Blick auf die Instrumente und jede Menge Rücksicht in den Spiegeln – sehr viel besser kann ein Arbeitsplatz für Fernreisende nicht gestaltet sein. Andere Stollenrösser mögen sportlicher sein, am Ende des Tages wird es aber vermutlich der Ténéré-Treiber sein, der als Erster das Nachtquartier erreicht. Neben der sehr menschenfreundlichen Unterbringung hat auch der geringe Spritverbrauch einen ordentlichen Anteil an der Langstrecken-Qualität der Yamaha. Im Landstraßenbetrieb wird immer eine 4 vor dem Komma stehen, und selbst flotte Autobahn-Etappen kosten selten mehr als 5,5 Liter auf 100 Kilometern.
Das relativ hohe Gewicht ist eigentlich nur dann zu spüren, wenn es mit der Ténéré etwas flotter durch enge Kehren gehen soll. Dann schiebt die Yamaha gern über die Front nach außen, doch das ist gut berechenbar und in keiner Weise hinterhältig. Ansonsten ist vom Hüftspeck praktisch nichts zu spüren. Höchstens dann, wenn das gute Stück in irgendeinem Tiefsandstück versenkt wurde und auf Bergung wartet. Doch auch für diesen in mitteleuropäischen Breiten eher selten auftretenden Fall haben die Yamaha-Techniker vorgesorgt: Ein massiver Bügel an der unteren Gabelbrücke ist die perfekte Abschleppöse. Ersatzweise erleichtert er das Verzurren auf Fähren und auf dem Autozug.
Wer sich die Kettenpflege etwas einfacher machen möchte, muß das Yamaha-Zubehörprogramm bemühen, denn einen Hauptständer gibt es nur gegen Aufpreis. In besagter Liste finden sich unter anderem auch aluverschalte Kunststoffkoffer, ein im Unterschied zur Serienanlage sehr amtlich klingender Akrapovic-Schalldämpfer sowie Motorschutzbügel und -platte. Die Bügel sind ein durchaus entbehrlicher Zusatz-Schutz, denn vor den teuren Folgen handelsüblicher Ausrutscher und Umkipper schützen serienmäßige Kunststoff-Protektoren, die Tank und Krümmer kratzerfrei halten, der frei liegenden Wasserpumpe und dem Lichtmaschinendeckel ebenfalls Schutz gewähren und sich nach einem Sturz sehr einfach und günstig ersetzen lassen. Ein ähnlich clever gemachtes Detail sind die ebenfalls serienmäßigen Faltenbälge der Telegabel. Was früher jede MZ ab Werk hatte, ist heutzutage wirklich eine Erwähnung wert.
Bis auf die zwei Endtöpfe vortäuschenden Auspuff-Mündungen ist die Ténéré ein grundehrliches Motorrad, das zwar motormäßig nicht das ganz große Grinsen ins Gesicht zaubert, dafür aber als langstreckentauglicher, leicht zu bedienender, sehr ordentlich verarbeiteter und mit 6995 Euro (plus 165 Euro NK) fair kalkulierter Reisepartner rundherum überzeugt. Bei ihr zählen nicht Einzelkomponenten, hier zählt die Gesamtleistung. Die in Italien gebaute Maschine macht im Unterschied zu ihrer Urahnin nicht mehr auf sportlich. Das paßt aber vielleicht ganz gut zur anvisierten Zielgruppe. Die ist nämlich auch älter geworden und muß ebenfalls nicht mehr bei jeder Gelegenheit auf dicke Hose machen. Die Sache mit dem Gewicht hatten wir bereits, aber das haben Sandkasten-Lieben nun mal so an sich, daß sie über die Jahre etwas zulegen.
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