aus bma 01/03

von Klaus Herder

Yamaha YZF-R1 Modell 2002Handelsübliche Kompaktwagen wiegen so um die 1200 Kilogramm. Stellen wir uns doch mal vor, so ein Pkw hätte einen 890-PS-Motor. Da wären wir doch glatt geneigt, der Blechkiste die eine oder andere Schwäche in Sachen Alltagstauglichkeit nachzusehen. Oder anders gesagt: Wir würden uns schwer wundern, wenn solch ein Kraftprotz abseits der Rennstrecke überhaupt laufen könnte. Womit wir bei der seit 1998 verkauften Yamaha YZF-R1 (nachfolgend nur noch R1 genannt) wären. Die brachte vollgetankt 202 Kilo auf die Waage und wurde von einem 150 PS-Vierzylinder in die Umlaufbahn geschossen. Mit einem Leistungsgewicht also, das dem des anfangs genannten Pkw-Beispiels entspricht. Das Ding war unglaublich leicht, brutal stark und sah zudem noch rattenscharf aus. Kein Wunder, dass die R1 zum Über-Supersportler avancierte und sogar mit dem eigentlich unsäglichen Prädikat „Kult” bedacht wurde.
Schade nur, dass manch verweichlichter Motorradfahrer auch von solch einem Klappmesser die Bedienungsfreundlichkeit eines Tortenhebers verlangte und die R1 ab und an in einem Nebensatz mit dem Adjektiv „zickig” abgewatscht wurde. Das tat dem Überflieger-Image der R1 zwar keinen Abbruch und wurde von engagierten Besitzern auch eher als Auszeichnung gesehen, doch die anfangs noch deutlich schwerere und schwächere Konkurrenz wurde immer leichter und stärker und im Gegensatz zur anno 2000 sanft modell- gepflegten R1 vor allem auch immer alltagstauglicher, was die Verkaufschancen von Fireblade & Co kräftig verbesserte.

 

HeizeisenBei der für 2002 anstehenden R1-Renovierung stand demzufolge nur wenig bis gar nichts von „weniger Masse” und „mehr Leistung” im Lastenheft. Der in seiner Ur-Version anspruchsvolle und in ungeübter Hand etwas träge und renitente Bock sollte in erster Linie fahrbarer und damit alltagstauglicher werden. Nun wären die Yamaha-Verantwortlichen natürlich schlechte Marketing-Strategen gewesen, wenn sie dieses Ziel mit den Worten „In Zukunft soll jede Torfnase mit der R1 zügig ums Eck pfeifen können” angekündigt hätten. In der offiziellen Presse-Info ist dann auch von „integrierten Leistungscharakteristika, die Tag für Tag mühelos einsetzbar sind” und von einer „sanften Kontrolle des Leistungseinsatzes” die Rede. Nun wären die Yamaha-Jungs aber keine Japaner, wenn sie nicht so ganz nebenbei eine kleine Schippe aus der Abteilung Leichter-Stärker-Geiler nachgelegt hätten. Bitteschön: zwei Kilo runter und zwei PS rauf, 200 kg mit 152 PS – das muss für die Datenkasten-Wertung reichen.
Hinter den Kulissen und unter der komplett neuen Verschalung blieb dafür kaum eine Schraube unangetastet. Am grundsätzlichen Konzept – flüssigkeitsgekühlter Reihenvierzylinder mit zwei obenliegenden Nockenwellen und Fünfventiltechnik – und am Hubraum von 998 ccm änderte sich zwar nichts, doch die zahlreichen Detailverbesserungen gehen schon schwer in Richtung Neukonstruktion. Die aufwendigste und wichtigste Modellpflege-Aktion ist die Umrüstung auf eine elektronisch gesteuerte Saugrohr-Einspritzung. Wo vormals 40er-Mikuni-Gleichdruckvergaser Dienst taten, kommt nun ein raffiniertes System zum Einsatz, dass die Vorteile von Vergasern (sanftes Ansprechen, geschmeidige Lastwechsel) und Einspritzung (stets optimale Gemischzusammensetzung und damit kontrollierteres Abgasverhalten) miteinander verbindet. Das Geheimnis liegt in unterdruckgesteuerten Flachschiebern, die den konventionellen Drosselklappen der Einspritzanlage vorgeschaltet sind und durch ein leicht verzögertes Öffnen beim Gasgeben den Leistungseinsatz sehr geschmeidig gestalten.
R1-BremseAber auch sonst bekam der R1-Viererpack viel Neues spendiert. Eine kleine Auswahl: kürzere Einlasskanäle, eine neue Airbox mit nach vorn gerichtetem Einlass (sorgt für kühlere Ansaugluft); leichtere Auslassventile, verbesserte Pleuelstangen, neue Zylinderlaufbuchsen (erweitert den nutzbaren Drehzahlbereich nach oben); ein neuer Kühler mit einem stärkeren Lüfter, ein leistungsfähigerer Ölkühler, eine erhöhte Ölfüllmenge (alles für die thermische Gesundheit), eine leichtere und stärkere Lichtmaschine sowie eine neue Zündung. Ach ja: Yamaha überarbeitete auch das Sechsganggetriebe, es lässt sich nun etwas leichter (aber immer noch nicht ganz optimal) schalten. In der neuen Vier-in-eins-Auspuffanlage mit Titan-Krümmern und Titan-Endtopf steckt nun ein ungeregelter Katalysator. Ein Sekundärluft-System unterstützt den Saubermann im Bemühen um halbwegs entgiftete Abgase. Und wo wir schon mal auf der Auslass-Seite sind: Das bekannte Exup-System wurde kräftig aufgerüstet. Das neue System arbeitet mit zwei Wellen und zwei Stauklappen, die jeweils die Abgasgeschwindigkeit aus den Zylindern 1 und 4 sowie 2 und 3 steuern. Diese Regulierung des Staudrucks im Auspuffsystem wirkt sich direkt und äußerst positiv auf Drehmoment und Leistung aus.
Kommen wir zur nicht ganz unwichtigen Frage, wie sich die zahlreichen Änderungen an Motor und Umfeld bemerkbar machen. Klare Antwort: äußerst angenehm. Über mangelnden Druck konnte man bei der R1 ja noch nie klagen. Nun gibt’s noch eine gehörige Portion Drehmoment und Drehfreude obendrauf. Die Gasannahme klappt jetzt unglaublich sanft und wunderbar kontrollierbar, der Motor läuft deutlich kultivierter und hat trotzdem mehr Feuer. Ab 2000 U/min geht’s zügig vorwärts, ab 7000 U/min steht gnadenloser Extra-Schub zur Verfügung. Dem mit unglaublichem Durchzugsvermögen gesegneten Vergnügen bereitet der Drehzahlbegrenzer erst bei 12.500 U/min ein Ende. Für den Sprint von 0 auf 100 km/h vergehen gerade mal drei Sekunden. Fünf Sekunden später stehen 200 km/h auf der Digitalanzeige. Wer sich hinter der keinen nennenswerten Windschutz bietenden Verkleidung zusammenfaltet, bringt die relativ kurz übersetzte R1 auf 270 km/h Vmax. Beschleunigung und Höchstgeschwindigkeit sind guter Supersportler-Standard. Beim Durchzug ist die Yamaha R1 dafür aber absolute Spitze und lässt sogar die 8 PS stärkere Suzuki GSX-R 1000 hinter sich.
LED-RücklichtDoch die R1 sollte ja nun nicht unbedingt flotter werden, es ging um die Fahrbarkeit. Womit wir beim Fahrwerk wären. Der Leichmetall-Brückenrahmen („Deltabox III”) ist eine komplette Neukonstruktion, die 30 Prozent steifer als das Gebälk der Vorgängerin sein soll. Das Rahmenheck ist nun endlich reparaturfreundlich angeschraubt, was die Sturzpiloten unter den R1-Treibern besonders freuen dürfte. Der Motor sitzt 20 Millimeter höher im Rahmen, was die Schwerpunktlage spürbar verändert und für mehr Agilität beim Schräglagenwechsel sorgt. Der Drehpunkt der neuen Aluschwinge wurde 17,5 Millimeter höher untergebracht, was mehr Stabilität beim Beschleunigen bringt. Die neue Upside-down-Gabel (43 statt 41 mm Gleitrohrdurchmesser) arbeitet mit 15 Millimetern weniger Federweg, das ebenfalls voll verstellbare Zentralfederbein ist nun mit einer härteren Feder bestückt. Beides zusammen kommt ebenfalls der Stabilität zugute. Der Nachlauf legte von 92 auf 103 zu. Das Ergebnis dieser Änderung? Wir ahnen es schon: mehr Lenkstabilität.
Unterm Strich lässt sich die neue R1 deutlich entspannter, berechenbarer und zielgenauer als ihre Vorgängerin fahren. Auf der Neuen sitzt man zudem etwas sportlicher, die Lenkerhälften sind etwas weiter vom ziemlich glatten Sitzkissen entfernt montiert, die Rasten sitzen höher und weiter hinten, und der Fahrer hat mehr Bewegungsfreiheit. Die sollte er auch tunlichst nutzen, denn die R1 ist nun zwar leichter beherrschbar, ein Schmuse-Bike, das die Kurven von allein fährt, ist sie aber gottlob nicht geworden.
Wer mit der R1 Spaß haben möchte, sollte sich aktiv einbringen. Das heißt nun nicht, innerorts im gnadenlosen Hanging-off unterwegs sein zu müssen, doch deutliche Gewichtsverlagerung beim sportlichen Kurvenwetzen ist schon angesagt. Wer darauf keinen Nerv hat, sollte sich lieber in Richtung Honda Fireblade orientieren. Die mit 12.590 Euro gleich teure R1 ist immer noch das kompromisslosere Motorrad, daran ändern auch recht praxisgerechte Dinge wie geringer Verbrauch (fast immer unter 6 Liter, 17 Liter Tankinhalt), sehr gutes Licht und eine exzellente Verarbeitung nichts. Der Soziusplatz hat übrigens noch nicht mal Alibifunktion, und der im Grunde recht gute Vierkolbensattel-Doppelscheiben-Stopper im Vorderrad wäre noch toller, wenn er etwas weniger Handkraft benötigen würde. Zum Trost sitz im neuen Cockpit ein unglaublich wichtiger Schaltblitz, dessen Ansprech-Drehzahl der Fahrer frei programmieren kann.
Die neue R1 sieht immer noch klasse und schön böse aus, sie ist noch kräftiger geworden und funktioniert nun viel ausgeglichener als das alte Modell. Die „One” hat ihre Zickigkeit abgelegt, artig ist sie aber ganz und gar nicht geworden. Die Grenzen der Fahrphysik lassen sich mit ihr erst recht nicht aufheben – dafür sind 200 Kilogramm und 152 PS dann doch etwas zu heftig.