Mit der neuen XJ6 kommt ein Aufmischer

 

aus bma 6/09 von Klaus Herder

Yamaha XJ6 Modell 2009Das Leben ist manchmal ungerecht. Besonders für Motorradhersteller. So musste sich zum Beispiel Yamaha seit 2004 vorwerfen lassen, dass man in der 78-PS-Mittelklasse nur die lustlos gedrosselte FZ6 zu bieten hatte. Zugegeben, die FZ6 war tatsächlich lustlos gedrosselt, nämlich möglichst billig per Drosselklappenanschlag und Einfachst-Veränderung des Zündungs-Kennfelds, was der Drehorgel eine ausgeprägte Durchzugsschwäche und eine ziemlich unharmonische Leistungsabgabe bescherte. Andererseits: Konnte man es den technikgeilen Yamaha-Ingenieuren verübeln, dass sie das Thema Kastration mit eher wenig Begeisterung angegangen waren? Konnte man nicht, denn da hat man schon einen brillanten Motor mit munteren 98 PS, und dann kommen diese typisch deutschen 30-Euro-im-Jahr Versicherungssparer, Saisonkennzeichen-Kasper und Fahrtenbuch-Führer und jammern herum, dass es keine passende 78-PS-Vernunft-Möhre bei Yamaha gibt. Fahrt doch lieber U-Bahn, ihr ewig betroffenen Spaßbremsen!

Das haben die Langweiler dann doch nicht gemacht, sondern lieber Honda CBF 600 gekauft, was die Yamaha-Verantwortlichen auch irgendwie doof fanden. Und so wurden die armen Yamaha-Ingenieure zurück in ihre Büros geschickt und durften wieder ganz von vorn anfangen. Na ja, nicht ganz von vorn, denn vom FZ6-Motor, der ja wiederum aus dem famosen Sportler R6 stammte, konnten die Weißkittel dann doch nicht ganz lassen. Sie nahmen den Kurzhuber als Basis für eine neue XJ. Jawohl, für eine neue XJ, denn mit allem, was in der Mittelklasse unter diesem Kürzel lief, hatte man sehr gute (Verkaufs-) Erfahrungen gemacht: ab 1984 mit dem 73 PS starken Alleskönner XJ 600, 1991 mit der ebenfalls halbverschalten und 50 PS starken XJ 600 S Diversion (offen mit aufpreispflichtigen 61 PS) und ab 1994 mit dem nackten Schwestermodell XJ 600 N. Doch 2003 war Schluss mit der XJ-Mittelklasse-Herrlichkeit, und die eingangs erwähnte Jammerei brach los. Das führte zu einem gewissen Zugzwang, denn von der letzten XJ-Generation sind allein in Deutschland immer noch knapp 30.000 Stück im Umlauf. Ein Kundenpotenzial, das man aus Yamaha-Sicht doch nur höchst ungern beim Honda-Dealer sehen wollte.

Yamaha XJ6 Modell 2009Womit wir wieder bei den leicht angesäuerten Ingenieuren und ihrer FZ6-Motorbasis wären. Diesmal ging es nicht nur darum, möglichst einfach 20 PS zu kappen. Diesmal ging es um den so gern genommenen Druck aus dem Drehzahlkeller und in der Drehzahlmitte. Um den zu bekommen, musste an alle wesentliche Komponenten Hand gelegt werden: Zylinderkopf, Kurbelwelle, Ein- und Auslasssystem, Kupplung, Schaltung – alles neu. 32 statt 36 mm Drosselklappendurchmesser, neue Nockenwellen mit weniger Hub und zahmeren Steuerzeiten, überarbeitete Kanäle, ein geändertes Airboxdesign, viel Feinarbeit an den Einspritz-Kennfeldern und eine neue Vier-in-zwei-in-eins-Auspuffanlage mit einem kanisterartigen, unterm Motor hängenden Endtopf – das und noch viel mehr bescherte den Technikern so manche Überstunde.

Aber mit dem Motor allein war es nicht getan, denn eine neue XJ sollte auch in einer anderen Preislage als die FZ spielen. Konkret: Sie musste günstiger werden, was zum Beispiel gegen Aluminium als Werkstoff für Rahmen und Schwinge sprach. Niedrige Sitzhöhe und ein möglichst schlankes Layout waren weitere Entwicklungsziele. Heraus kam ein komplett neuer Doppelschleifen-Stahlrohrrahmen, der den Motor an vier Punkten als mittragendes Element aufnimmt. Dieser Rahmen mag günstig sein, doch billig wirkt er nicht. Ganz im Gegenteil: Sauber gebogen, nach allen Regeln der Kunst ordentlich verschweißt und vernünftig pulverbeschichtet – die Rahmenbedingungen stimmen. Die ganze Sache sieht zudem recht gelungen aus, denn die XJ6 schafft den nicht ganz einfachen Spagat zwischen knuffiger Kompaktheit und erwachsenen Abmessungen. Die Designer haben einen tollen Job abgeliefert, denn die XJ6 wirkt modern, aber nicht zeitgeistig anbiedernd. Im direkten Vergleich mit einer Kawasaki ER-6n oder auch Suzuki Gladius sieht die Yamaha nach deutlich mehr Motorrad aus, was unter anderem natürlich auch an ihren beiden zusätzlichen Zylindern liegen mag. Kurzbeiner müssen sich trotzdem nicht ängstigen, denn die sehr schlanke XJ-Taille sorgt dafür, dass moderate 790 mm Sitzhöhe in der Praxis eher noch niedriger wirken. Der Knieschluss zum 17,3-Liter-Tank ist perfekt, Menschen unter 1,90m kommen auch mit dem leicht sportlich-engen, aber nicht zu unbequemen Kniewinkel gut klar. Der Fahrer sitzt etwas weiter vornüber gebeugt als bei der Konkurrenz, der gerade und nur an den Enden leicht und goldrichtig gekröpfte Lenker macht breite Schultern und beschert dem Fahrer die Light-Version einer angriffslustigen Streetfighter-Haltung. Wer noch zwei Zentimeter weiter vorn greifen möchte, montiert einfach die Klemmfäuste der Lenkerbefestigung um 180 Grad verdreht.
Die Sitzbank sieht zwar nicht übermäßig gut gepolstert aus, doch die für den Soziusbetrieb ausreichend lange Bank ist auch auf Dauer überraschend komfortabel. Die eher unpraktischen Sozius-Griffmulden sind allerdings nur für Mitfahrer empfehlenswert, die über einschlägige Erfahrung als Freeclimber verfügen. Menschen ohne ähnlich gut entwickelte Fingerhaltekräfte sei lieber die klassische Klammeräffchen-Haltung als sichernde Maßnahme empfohlen.

Yamaha XJ6 Modell 2009Am Fahrer-Arbeitsplatz gibt es nur wenig zu meckern: Das von der FZ stammende Cockpit ist mit Uhr, Tank- und Temperaturanzeige sowie zwei Tageskilometerzählern gut bestückt und lässt sich sehr gut ablesen. Die Rückspiegel machen das, was sie sollen, und der Handbremshebel lässt sich in der Griffweite verstellen. Der Kupplungshebel ist leider unverstellbar, was aber nicht wirklich stört, denn die seilzugbetätigte Kupplung lässt sich extrem leicht betätigen und sehr fein dosieren. Das ist kräfte- und nervenschonend und dürfte selbst den blutigsten Anfänger vor keinerlei Probleme stellen. Die Startprozedur tut das auch nicht, was im Zeitalter elektronisch geregelter Einspritztechnik auch nicht weiter verwundert. Der Vierventiler nimmt zart säuselnd die Arbeit auf und nach kurzer Zeit sauber Gas an. Sehr sauber sogar, der Reihenvierer hängt angenehm direkt am Gas. Übermäßig hektisch muss die rechte Hand aber gar nicht werden, denn die versprochene Stärkung im unteren und mittleren Bereich ist deutlich spürbar. Okay, der Druck kommt vielleicht nicht aus dem Drehzahlkeller – dafür hat die XJ zu viele Zylinder und zu wenig Hubraum – aber aus dem Drehzahlerdgeschoss. Ab etwa 3000 Touren geht es mit der vollgetankt 215 Kilogramm schweren Yamaha ordentlich vorwärts, ab 5000 U/min wird sie richtig munter. Bis 9000 U/min legt der Vierzylinder dann turbinenartig gleichmäßig zu. Kein Durchhänger, kein Verschlucken, nichts dergleichen. Ab dem fünfstelligen Bereich wird es dann etwas zäh, aber bei exakt 10000 U/min liegen ja auch die 78 PS an, das maximale Drehmoment von klassenüblichen 60 Nm wird bei 8500 U/min gestemmt. Damit liegt das Drehzahlniveau über den gesamten Bereich 1500 Touren unter dem der nervigen 78-PS-FZ6. Wirklich störende Vibrationen werden nur von Zeitgenossen wahrgenommen, die auch ansonsten das Gras wachsen hören. Das etwas knochig zu schaltende Sechsganggetriebe dürfte da schon ein paar mehr Fahrern auffallen, doch mit etwas Gewöhnung stört auch das nicht weiter. Wer mit Kupplungs- und Schalthebel sowie Gasgriff feinmotorisch optimal umgeht, erledigt den Sprint von 0 auf 100 in 3,9 Sekunden – Tschüss CBF 600! Praxisrelevanter sind aber die Durchzugswerte und auch bei denen sackt die XJ6 die direkte Vierzylinder-Konkurrenz ein und schlägt auch die alte FZ6 mit 78 PS. Als Höchstgeschwindigkeit verspricht Yamaha 200 km/h.

Yamaha XJ6 Modell 2009Wer überwiegend auf Landstraßen unterwegs ist, kommt mit 4,5 Litern Benzin auf 100 Kilometern aus. Das ist nicht rekordverdächtig, aber immer noch ein eher günstiger Wert. Der Eingriff am offenen Vierzylinder-Herzen hat sich unterm Strich also absolut gelohnt, was sehr erfreulich, aber nicht wirklich überraschend ist, denn ansonsten hätte man sich den ganzen Aufwand ja schenken können.

Wirklich überraschend ist dagegen, wie sich das neue Fahrwerk aufs Fahrverhalten auswirkt. Die XJ6 ist nämlich alles andere als ein x-beliebiges und eher langweiliges 78-PS-Durchschnittsbike, sie ist DIE Referenz in Sachen Handlichkeit! Einfacher lenkt keine andere ihrer Klasse ein. Leichter geht es mit keiner anderen Straßen-600er ums Eck. Beim Kurvenwuseln fühlt sie sich eher nach 140-Kilo-Supermoto als nach einem Ü-200-Kilo-Vierzylinder an. Man muss eigentlich nur gezielt dorthin schauen, wo man hin möchte – den Rest erledigt die XJ6 praktisch von allein.

Doch bevor es hier zu euphorisch wird, holen wir den Leser auf den Boden der Federbein-Tatsachen zurück: Die nicht verstellbare Telegabel und das ausschließlich in der Federbasis anzupassende Federbein machen ihren Job im Solobetrieb noch sehr ordentlich. Mit zwei Personen besetzt und bei etwas schärferer Gangart kommen die Einfachteile aber relativ bald an ihre Grenzen. Bei scharfen Bremsmanövern geht die Gabel zudem sehr schnell auf Tauchstation. Wilbers & Co. werden es ggf. richten. Die komfortable Grundabstimmung passt unterm Strich aber durchaus zum entspannten, lässigen (Motor-)Charakter der XJ6. Die serienmäßig montierten und haftfreudigen Bridgestone BT 021 und die üppige Schräglagenfreiheit sorgen zudem dafür, dass die brillante Handlichkeit der XJ6 auch wirklich genutzt werden kann.

Yamaha XJ6 Modell 2009Die in Weiß, Gelb und Schwarz lieferbare XJ6 kostet in der Basisausstattung 5950 Euro, ein ABS ist dann noch nicht an Bord. Der Blockierverhinderer kostet 545 Euro und ist ein kräftig modellgepflegtes System, das nicht mehr so grob arbeitet wie in der FZ6. Die Regelintervalle sind zwar immer noch spürbar, aber das neue ABS regelt viel feiner und greift auch erst recht spät ein. Die beiden Doppelkolben-Stopper im Vorderrad brauchen zwar eine zupackende Hand, lassen sich aber gut dosieren und bieten auch einen klaren Druckpunkt – keine Selbstverständlichkeit bei ABS-Anlagen. ABS sollte also Pflicht sein, womit dann 6495 Euro fällig wären. Wer weitere 400 Euro drauflegt, bekommt die 600er als halbverschalte, ansonsten aber baugleiche XJ6 Diversion ABS. Für Menschen, die regelmäßig auf der Autobahn unterwegs sind, mag das Schalentier eine Überlegung wert sein. Für alle anderen ist die livehaftig deutlich flotter aussehende Nacktdarstellerin eigentlich die bessere Wahl. Zum munteren Kurvenschwingen passt das direkte Fahrtwinderlebnis eigentlich besser.

Neben jeder Menge Fahrspaß hat die Yamaha auch ein paar ganz handfeste Vorteile zu bieten. Sehr gutes Licht zum Beispiel. Oder auch einen leicht erreichbaren Ölpeilstab und einen zweiten, deutlich größeren Verschlussstopfen, über den bequem auch ohne Trichter Öl nachgefüllt werden kann. Die Batterie und die Sicherungen sind unter der abschließbaren Sitzbank leicht zugänglich, und an das Luftfilterelement kommt man nach dem Hocklappen des Tanks ebenfalls sehr einfach heran. Bremspedal, Schaltmimik und Seitenständer (einen Hauptständer gibt es immerhin als Zubehör) wirken etwas grobschlächtig – hier merkt man den kalkulatorischen Rotstift ausnahmsweise – funktionieren aber tadellos.

Die Yamaha-Ingenieure mögen anfangs etwas frustriert gewesen sein, als es darum ging, „nur” ein neues Motorrad speziell für die vermeintlich biedere 78-PS-Klasse zu entwickeln. Doch irgendwann scheint sie der Spaß am Job übermannt zu haben, und heraus kam ein rundherum gelungenes Motorrad, das beweist, dass Sparsamkeit nicht zwangsläufig Spaßverzicht bedeutet.