aus bma 12/12
von Klaus Herder
Man stelle sich folgende Situation vor: Manni Mustermann, stolzer Besitzer einer standesgemäß motorisierten Limousine aus bayerischer (ersatzweise auch schwäbischer) Produktion, beabsichtigt, nach Tagen dienstlich bedingter Autobahn-Kilometerfresserei mal wieder etwas Spaß auf der heimischen Landstraßen-Hausstrecke zu haben. Doch bevor Manni gepflegt angasen wird, wuselt er mit Werkzeug und Wagenheber bewaffnet um seinen fett besohlten Viertürer und widmet sich in liebevoller Einzelbetreuung den Federelementen des Achtzylinder-Schätzchens. Nach ausgiebiger Landstraßen-Toberei heißt es natürlich wieder „Kommando zurück“. Manni Mustermann verbringt also noch etwas Zeit mit dem Rückbau der Stationen, denn morgen ist wieder ein autobahntaugliches Fahrwerk gefragt. Sie können sich besagten Ablauf nicht wirklich vorstellen? Verständlich, denn kein Pkw-Besitzer wäre fernab des Motorsports bereit, sich in Sachen Fahrwerks-Setup vor jeder Tour die Finger schmutzig zu machen oder auch nur eine Minute mit Werkzeug in der Hand im Radkasten seines Spielzeugs zu verbringen. Für den gemeinen Motorradfahrer ist es dagegen völlig normal, an möglichst schwer zugänglichen Stellen mit Hakenschlüssel oder Schraubendreher zu hantieren, dabei Klicks zu zählen und sich so ganz nebenbei die Haut von den Fingerknöcheln zu raspeln. Warum eigentlich? Zum einen natürlich, weil der gemeine Motorradfahrer alles, was irgendwie mit Automatik zu tun haben könnte, unglaublich unsportlich findet und immer irgendetwas zum Herumspielen braucht. Zur Erinnerung: BMW verbaute zum Beispiel noch lange Zeit „Choke-Hebel“ (die keine waren), als längst Einspritztechnik Dienst tat und eine manuelle Gemischanreicherung technisch völlig überflüssig war. Ein weiterer Grund: Die meisten Motorradhersteller hatten bislang nicht wirklich großes Interesse daran, die Entwicklung in Sachen Fahrer-Assistenzsysteme voranzutreiben. Die träge Kundschaft verlangte ja nicht wirklich danach und es genügte vollauf, so alle zwei, drei Jahre mit ein paar Kilogramm weniger und ein paar PS mehr zu protzen.
Doch diese Zeiten dürften nun vorbei sein. Zumindest in der Klasse der Superbikes, denn ausgerechnet BMW zeigt der versammelten Konkurrenz mit der neuen HP4 mal wieder recht deutlich, was dabei herauskommen kann, wenn man das Motto „Das haben wir immer so gemacht!“ ausnahmsweise nicht beherzigt. Ausgerechnet BMW? Es müsste eigentlich „typisch BMW“ heißen, denn entgegen landläufiger Meinung – Stichworte „Heizgriffe“ oder auch „Klapphelm“ – waren es in den letzten Jahren, ja fast schon Jahrzehnten eigentlich immer die in Berlin produzierenden Bayern, die moderne Motorradtechnik (groß-)serienreif und vor allem auch verkäuflich gemacht haben. Natürlich hat ein Soichiro Honda das Motorrad aus dem Dornröschenschlaf erweckt und massenkompatibel gemacht; selbstverständlich gab es schon lange vor der K 100 Einspritztechnik für Motorradmotoren, doch erst BMW sorgte dafür, dass zum Beispiel ein Supersportler mit ABS heute etwas völlig Normales ist. Das mag man als Oldstyle-Verfechter und Hüter der wahren Lehre womöglich verdammen, doch der Erfolg gibt den Bayern Recht: Seit der Markteinführung Ende 2009 verkaufte BMW gut 26000 Exemplare der S 1000 RR. Kein anderer Wettbewerber kam auch nur in zarte Reichweite des schärfsten Superbikes am Markt.
Doch nicht genug damit, dass sich die für 2012 leicht modellgepflegte S 1000 RR immer noch prächtig verkauft und in praktisch jedem Vergleichstest den obersten Podestplatz belegt. Nein, jetzt bekommt der Bestseller mit der HP4 ein noch sportlicheres Schwestermodell zur Seite gestellt, das den Abstand zur Konkurrenz noch etwas mehr vergrößern dürfte. Dafür bedurfte es noch nicht einmal gesteigerter Motoren-Potenz, denn mit 193 PS bei 13000/min und maximal 112 Nm bei 9750/min ist die HP4 auf dem Papier genauso stark wie die S 1000 RR. Die erfreuliche Tatsache, dass die RR in der Praxis eigentlich immer kräftig nach oben streut – echte 200 PS oder sogar noch etwas mehr sind eigentlich immer drin – dürfte auch für die HP4 gelten.
Der Grund dafür ist recht einfach: Die HP4 kann alles, wirklich alles besser als die auch schon sehr gute S 1000 RR. Die Besser-Bandbreite reicht dabei von „etwas besser“ bis „deutlich besser“. Unter „etwas besser“ fällt das geringere Gewicht. BMW verspricht unter gewissen Bedingungen („zu 90 Prozent befüllter Tank”) fahrfertige 199 Kilogramm. In der Praxis sind es vollgetankt und mit Competition-Paket (jede Menge Kohlefaser, langer Motorspoiler, klappbare Brems- und Kupplungshebel, einstellbare Racing-Fußrasten, Räder in „Racing-Blue“ und – ganz wichtig – ein „Sponsorensticker-Kit“ für zusammen 3200 Euro) 203 Kilo und damit sechs weniger als bei einer vergleichbar ausgestatteten S 1000 RR. Den Unterschied machen der 4,5 Kilogramm leichtere, komplett aus Titan gefertigte Akrapovic-Auspuff und die neuen Siebenspeichen-Leichtmetallräder (minus 2,4 Kilo). Ein leichterer Kettenradträger, eine kleinere, rund 700 Gramm leichtere 7-Ah-Batterie und etwas Carbon-Behang ergänzen das Diät-Programm. Besonders die Schmiederäder sorgen dafür, dass die BMW in Sachen Wendigkeit spürbar zulegte und sich deutlich handlicher bewegen lässt. War die Bremsanlage schon bisher ein richtig feines Teil, legten die Stopper nun nochmals zu. Die neuen Brembo-Monoblocksättel und die neu abgestimmten Beläge bescheren der HP4 im direkten Vergleich mit der S 1000 RR eine verbesserte Dosierbarkeit. Wie bisher verfügt das „Race ABS“ über vier verschiedene Modi: für nasse („Rain“) und trockene Fahrbahn („Sport“) sowie für den Rennstreckenbetrieb mit Supersportreifen („Race“) und mit Rennpellen („Slick“). Im „Slick“-Modus bietet jetzt das „IDM-Setting“ verfeinerte Regelimpulse und maximal mögliche Verzögerung. Zudem sind in dieser Einstellung die Hinterrad-Abhebeerkennung und das Hinterrad-ABS deaktiviert, was Könnern auf abgesperrtem Terrain die Möglichkeit bietet, die HP4 auch über die Hinterradbremse zu steuern und mit dem neuen 200er Hinterradgummi (200/55 ZR 17 Pirelli Supercorsa SP statt 190/55 ZR 17 Metzeler Racetec K3) fette Bremsdrifts auf den Asphalt zu zaubern.
Das ist alles sehr nett, und auch die bei der HP4 serienmäßige „Launch Control“ ist eine feine Sache, sorgt sie doch im Slick-Modus beim vollen Beschleunigen aus dem Stand dafür, dass im ersten und zweiten Gang das Vorderrad noch so gerade eben auf dem Boden bleibt und das fette Drehmoment in maximalen Vortrieb statt in willenlose Wheelies investiert wird. Der Fahrer muss sich beim flotten Ampelstart in der verkehrsberuhigten Zone oder vorm Kindergarten (oder vielleicht doch lieber beim Renntraining…) also viel weniger auf die richtige Gasdosierung konzentrieren und kann die Beschleunigung bei nahezu vollständig geöffnetem Gasgriff voll über die Kupplung steuern. Bei 60 km/h (oder ab dem dritten Gang und auch bei Schräglagen von über 30 Grad) wird die Launch Control deaktiviert, zuvor begrenzt sie die Drehzahl auf maximal 8000/min. Ein nettes elektronisches Helferlein, doch auch dieses fällt, ebenso wie der serienmäßige Schaltassistent, der ein blitzschnelles Hochschalten ohne Kupplungsbetätigung und damit praktisch ohne Zugkraftunterbrechung ermöglicht, in die Rubrik „etwas besser“, erklärt aber noch nicht deutlich über zweieinhalb Mille Preisdifferenz.
Wie die ganze Sache in der Praxis funktioniert, mag folgendes Beispiel verdeutlichen: Der Fahrer zieht mächtig an der Kordel, und die HP4 beschleunigt hart aus einer Kurve. Das DDC bekommt jetzt die Info, dass sich die Drosselklappen sehr schnell öffnen und weiß, dass nun Traktion benötigt wird. Es folgt der Befehl ans Federbein, das Dämpferventil zu schließen. Das Hinterrad federt nun weniger schnell und stark ein und kann dadurch mehr Traktion aufbauen. Als nächstes ist die Gabel dran: Die HP4 knallt durch eine Schikane, deren Ideallinie in voller Schräglage über ziemlich unebenen Belag führt. Die Gabel bzw. das Vorderrad verlöre nun bei zu straffer Dämpfung den Bodenkontakt, das Rad würde über die Wellen springen, es kommt Unruhe ins Gebälk und die Fuhre untersteuert. Um das zu verhindern, reduziert das DDC mit zunehmender Schräglage die Dämpfung, die Gabel arbeitet sensibler, das Rad springt nicht und bleibt am Boden. Beim harten Umlegen kann eine solche softe Dämpfereinstellung aber wiederum unvorteilhaft sein, weil dann wieder zu viel Bewegung ins Fahrwerk kommt. Was macht das DDC? Bei hohen Änderungsgeschwindigkeiten des Schräglagenwinkels stellt es die Dämpfung blitzschnell wieder auf straff – das Handling wird leichter und präziser.
Und was merkt der Fahrer während der ganzen Dämpfungs-Hin- und Herregelei? Praktisch nichts, und ein besseres Kompliment kann man dem System nicht machen. Wer nicht gerade von einem Kartoffelacker auf die Autobahn einbiegt, wird praktisch keine Regelung feststellen können, wundert sich allerhöchstens darüber, dass ihm immer und überall und auf jedem Belag ein perfekt eingestelltes Fahrwerk zur Verfügung steht. Vorbei die Zeiten, in denen das in der heimischen Garage gewählte Setup für alles und jedes zu passen hatte, wollte man nicht zwischendurch zum Werkzeug greifen. Im „Rain“- und „Sport“-Modus sorgt das DDC für eine satte, durchaus komfortbetonte Dämpfung. In den Modi „Race“ und „Slick“ geht es um möglichst glasklare Rückmeldung bei sehr, sehr sportlicher Fahrweise, also um den – die Namen deuten es an – Rennstreckenbetrieb. Für die verschärfte Gangart auf dem Rundkurs ist auch ein weiteres Feature gedacht: die jetzt feinjustierbare „Dynamische Traktionskontrolle“ (DTC). Im „Slick“-Modus kann der Fahrer über eine Schaltwippe an der linken Lenkerarmatur die Traktionskontrolle während der Fahrt auf Umgebungsbedingungen wie Luft- und Asphalttemperatur, die sich ändernde Reifenhaftung und natürlich auch auf unterschiedliche Fahrbahnzustände einstellen. Der Einstellbereich reicht wiederum von –7 (Verringerung des DTC-Eingriffs) bis +7 (stärkere DTC-Regelung). Wer also unbedingt sliden möchte – und das hoffentlich auch kann – wird damit seine wahre Freude haben.—
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