aus bma 09/01

von Bernhard Hübner

Honda SilverwingFür den einen oder anderen Leser ist es die all entscheidende Frage, daher wollen wir sie auch gleich zu Anfang beantworten: Ja, ein Helm geht auch rein (nur zu groß sollte er nicht sein). Doch der Honda Silver Wing 600 hat noch einiges mehr zu bieten als Stauraum.
Lange Jahre waren 250 ccm und bescheidene 17 PS das Maß der Dinge bei den „großen” Rollern. Vorreiter war hier – natürlich – Honda. Vor ein paar Jahren setzte Suzuki noch einen drauf. Fortan konnte der größte Motorroller mit 400 ccm Hubraum und einer Leistung von 33 PS aufwarten. Doch das war alles im letzten Jahrtausend. Seit diesem Jahr hat eine Reihe von Herstellern aus Europa und Fernost Motorroller im Programm, die in den Fahrleistungen manchem (Einsteiger-)Motorrad in nichts nachstehen.
Den größten Treibsatz hat auch bei dieser neuen Rollergeneration mal wieder Honda verbaut. Zwei Zylinder in Reihe mit zwei obenliegenden Nockenwellen und je vier Ventilen sowie zwei Ausgleichswellen und einem Hubraum von 582 ccm produzieren die für Rollerverhältnisse bis dato unglaubliche Leistung von 49 Pferden. Damit hat der Silver Wing tatsächlich das Zeug zum Motorradfahrerschreck. Die Verbindung zum Hinterrad stellt ein voll gekapselter Zahnriemen her, dessen Spannung nur jeweils im Rahmen der 6000 km-Inspektionsintervalle kontrolliert werden muss.
Gestartet wird rollertypisch: Bei gezogener Bremse genügt ein Druck auf den Anlasserknopf und der Silver Wing erwacht zum Leben. Rolleruntypisch ist der Klang, der dem Auspuff entweicht. Der nämlich erinnert eher an ein ausgewachsenes Motorrad. Ist ja auch kein Wunder. Ein Dreh am Gasgriff, und die stufenlose Automatik setzt die Fuhre in Gang. Eindrucksvoll wird dem Fahrer klar gemacht, dass er auf einem echten Kraftprotz hockt. Denn ehe er sich versieht, steht eine Zahl auf dem Tacho, die jeden gesetzlichen Rahmen für Ortsverkehre sprengt. Der große Honda-Roller erfordert einen disziplinierten Fahrer, der in der Lage ist, neben der aktuellen Verkehrssituation auch ständig die Tachonadel im Auge zu behalten. Ist der Ortsausgang endlich erreicht, genügt ein leichter Dreh, um das gewünschte Landstraßentempo zu erreichen. Die stufenlose Keilriemenautomatik findet jederzeit die richtige Drehzahl für kräftigen Vorschub. Man hat wirklich den Eindruck, sich auf einem wesentlich leistungsstärkeren Untersatz vorwärts zu bewegen.

 

Honda SilverwingAuch das Fahrwerk kann sich sehen lassen. Das Vorderrad (Bereifung 120/80-14) wird geführt von einer Teleskopgabel mit einem Standrohrdurchmesser von 41 Millimetern und 120 Millimetern Federweg. Hinten rollt der Silver Wing auf einem Reifen der Größe 150/70-13. Zwei fünffach verstellbare Federbeine mit einem Federweg von 115 Millimetern stützen die Hinterradschwinge gegen den Stahlrohrrahmen ab.
Übersichtlich und komplett ist das Cockpit ausgestattet. Der große Tacho wird flankiert von einem Drehzahlmesser, über dessen Sinn man bei einem Automatikfahrzeug durchaus geteilter Meinung sein kann, und dem Kombi-Instrument mit den LCD-Anzeigen für Tankinhalt und Wassertemperatur sowie der Zeituhr. Kom- plettiert wird die Instrumententafel von einer Reihe Kontrolleuchten.
Dort, wo beim Motorrad die Kupplung sitzt, betätigt der Silver Wing-Pilot das von Honda CBS genannte Integral-Bremssytem. Gleichzeitig werden die beiden Bremsscheiben in die Zange genommen, vorne eine 256mm-Scheibe und hinten eine 220mm-Scheibe. Kräftiges Zupacken ist allerdings Voraussetzung für ordentliche Verzögerung. Der rechte Bremshebel betätigt nur die vordere Scheibe. Gut versteckt unter dem rechten Staufach befindet sich auch noch ein Handhebel für die Feststellbremse.
Fahrwerksschwächen leistet sich der Honda Silver Wing kaum. Erst im Hochgewindigkeitsbereich von 180 km/h auf der Tachoskala (gefahren in einer lang gezogenen Kurvenkombination auf der Autobahn) – die Drehzahlmessernadel kratzt dann schon am roten Bereich von 8300 U/min – macht sich leichtes Pendeln bemerkbar und erinnert den Fahrer daran, dass er auf einem Roller mit verhältnismäßig kleinen Rädern sitzt. Der Honda-Vertragshändler Schreiber aus Zeven (Tel. 04281/8555), der uns seinen Vorführer für diesen Fahrbericht zur Verfügung gestellt hat, war da etwas mutiger. Er hat es bis auf 190 km/h gebracht. Allerdings sollte man nicht der Versuchung erliegen, auf kurvenreichen Strecken sportliche Motorräder jagen zu wollen, denn die benehmen sich beim flotten Kurvenschwingen doch noch etwas ausgeglichener.
CockpitAuch sonst hat der große 600er eine Menge zu bieten. Neben dem Stauraum unter der Sitzbank, der außer einem Helm (siehe oben) auch noch Regenklamotten, Einkäufe oder sonstiges aufnimmt, gibt es zwei weitere Staufächer für Utensilien aller Art, von denen eines abschließbar ist. Serienmäßig ist eine Bordsteckdose als Stromquelle z.B. für das Handy-Ladegerät in dem abschließbaren linken Fach untergebracht. Ein unge- regelter Katalysator entlässt die Abgase einigermaßen gefiltert in die Umgebung. Damit erfüllt der Silver Wing die Euro 2-Abgasnorm – ein nicht zu unterschätzender Aspekt, sollte es tatsächlich in absehbarer Zeit zu einer schadstofforientierten Besteuerung von Zweiradfahrzeugen kommen.
Der Komfort steht bei dieser Fahrzeugkategorie selbstverständlich ganz im Vordergrund. Eine breite, wohlgeformte Sitzbank verwöhnt den Fahrer, und auch für die Füße sind reichlich Ablageflächen vorhanden. Die verstellbbare Rückenlehne kann ganz den individuellen Bedürfnissen angepasst werden. Etwas störend wirkt dieses Komfortteil nur bei allzu großen Fahrern. Auch die hohe und etwas flatterige Windschutzscheibe ist nicht für Fahrer jeder Größe optimal geeignet. Bei einem 1,70 m großen Piloten beispielsweise treten heftige Verwirbelungen vor dem Helm auf. Aber solcherlei Problemchen sind von Fahrer zu Fahrer unterschiedlich und lassen sich am besten im Rahmen einer Probefahrt klären.
Während der Silver Wing in Bezug auf die Wendigkeit im Stadtverkehr schon allein wegen des recht hohen Fahrzeuggewichtes von vollgetankt 236 kg nicht mit der von gängigen 125ccm-Motorrollern mithalten kann, bieten Großroller wie der 600er von Honda in allen anderen Bereichen ganz neue Möglichkeiten. Überholvorgänge auf der Landstraße werden zum Kinderspiel, und auch auf der Autobahn muss sich der Fahrer nicht mehr verschämt auf die rechte LKW-Spur zurückziehen.
Auch komfortablem Touren steht mit dem Silver Wing nichts im Wege. Das Tankvolumen von 16 Litern dürfte selbst für Fernreisen ausreichend bemessen sein. Unser Fahrzeug kam bei wechselvoller Fahrweise inkl. Vollgasetappen auf der Autobahn mit 5,33 Litern Normalbenzin aus, das entspricht einer Reichweite von etwa 300 Kilometern. Nur beim Tanken ist Vorsicht gefordert, denn wenn der Tankrüssel nicht bis zum Anschlag im Tankstutzen steckt, ist mit einer Spritdusche zu rechnen. Aber Anfängerfehler macht schließlich jeder mal.
Die Front des Großrollers erinnert eher an ein Motorrad, insbesondere der Scheinwerfer ist dem eines pfeilschnellen Falken aus Japan recht ähnlich, und entsprechend hoch ist der Grußfaktor. Schade, dass man unterm Helm nicht erkennen kann, wenn sich die Entgengenkommenden mit hochrotem Kopf ihres Grußfehlers bewusst werden.
Mit dieser Topleistung ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Im Gegenteil, das Wettrüsten auf dem Rollersektor hat scheinbar erst begonnen. Schon war zu lesen, dass Suzuki einen 650ccm-Roller mit 54 PS in Arbeit hat. Doch erst einmal ist der Honda Silver Wing das Maß der Dinge. Für 16.300 Mark inkl. Nebenkosten steht der zur Zeit stärkste Motorroller in den Farben Rot, Silber oder Blau bei den Honda-Vertragshändlern zur Probefahrt und zum Kauf bereit.