Warum drängeln sich Motorradfahrer eigentlich immer an Autoschlangen vorbei? Dazu ein paar Gedanken von Lars, die man eigentlich an alle Autofahrer verteilen müsste …

aus Kradblatt 10/15
von Lars Reineke

Warum sich Motorradfahrer an Autoschlangen vorbeidrängeln

Stau beim Mogo - da lohnt kein DurchfahrenNachdem ich in der letzten Kradblatt-Ausgabe bereits erklärt habe, warum Motorradfahrer sinnlos überholen, wurde ich gefragt, weshalb sie sich immer wieder mal vor Bahnschranken und Ampeln an den stehenden Autos vorbeidrängeln.

Also: Die korrekte Antwort da­rauf lautet vermutlich: Kommt drauf an. Ich will dennoch versuchen, die Frage zu beantworten, und das Beste ist vermutlich, mehrere Erklärungen anzubieten. Dabei sei angemerkt, dass ich mich immer auf stehende oder zumindest sehr langsam rollende Autos beziehe. Und noch ein Disclaimer: Das ganze hier ist keine Handlungsanweisung. Es ist eine Erklärung. Das in diesem und im vorangegangen Artikel beschriebene Verhalten ist teilweise nicht mit der Straßenverkehrsordnung vereinbar. Deswegen muss es aber nicht automatisch falsch sein. Gesetze müssen hin und wieder angepasst werden. Aber dazu komme ich noch.

Die einfachste Antwort auf die Eingangsfrage ist wahrscheinlich: Weil’s geht. Motorradfahrer sind auf gerader Strecke relativ schmal und kommen so auch bei Gegenverkehr an den meisten Autoschlangen vorbei, ohne jemandem im Weg zu sein. Ich fahre eine Reiseenduro, kann daher selbst über größere Autos hinweggucken und sehe bereits vorher, ob bei entgegenkommenden LKWs und Bussen noch ausreichende Lücken vorhanden sind, in die ich gegebenenfalls ausweichen kann. Auf Streckenabschnitten, die ich nicht überblicken kann, überhole ich nicht. Auch keine stehenden Autos.

Daran schließt sich die nächste Antwort an: Weil es niemandem schadet. Mein Motorrad hat 67 PS und wiegt leer ca. 210 kg. Das entspricht einem Leistungsgewicht eines Porsche 911 Turbo. Ich weiß ja nicht, was ihr für Autos fahrt, aber an einer auf grün schaltenden Ampel hänge ich so ziemlich jeden PKW erst mal ab und stehe niemandem im Weg, sobald wieder gefahren werden kann.
Am häufigsten wird allerdings der folgende Grund ins Feld geführt: Stop-and-Go-Verkehr auf dem Motorrad ist um ein Vielfaches anstrengender als im Auto. Das bedarf jedoch möglicherweise einer ausführlicheren Erläuterung.

Die Bedienelemente eines Motorrades sind folgende: Mit der rechten Hand bedient man das Gas, außerdem die Vorderradbremse, mit dem rechten Fuß die Hinterradbremse. Mit der linken Hand wird die Kupplung betätigt, mit dem linken Fuß geschaltet, wobei zum Herunterschalten der Hebel mit dem Fuß nach unten gedrückt wird, zum Hochschalten wird er gezogen. Die Gänge müssen alle der Reihe nach geschaltet werden und können nicht übersprungen werden. Man kann also nicht einfach wie im Auto an einen Stau heranfahren und direkt in den Leerlauf schalten. Der Leerlauf befindet sich zwischen 1. und 2. Gang, um ihn einzulegen, darf man den Schalthebel nicht ganz durchdrücken (bzw. -ziehen), dazu braucht man also etwas Fußspitzengefühl.

Die meisten Kupplungen sind Seilzugkupplungen und somit mehr oder weniger schwergängig zu bedienen, so dass gerade das längere Festhalten der Kupplung irgendwann schmerzhaft in den Fingern wird. Wenn also abzusehen ist, dass man wieder längere Zeit stehenbleiben muss, wird man als Motorradfahrer mit dem Fuß den Leerlauf einlegen. Wenn man ihn denn auf Anhieb findet, da viele ältere Motorräder noch keine Ganganzeige haben und lediglich den Leerlauf mit einer grünen Lampe anzeigen. Man sollte außerdem bei langsamer und daher instabiler Fahrt lieber hinten bremsen als vorne, weil man sonst Gefahr läuft, bei einer Vorderradbremsung mit schrägstehendem Lenker zur Seite zu kippen. Und wir erinnern uns: Das Hinterradbremsen macht man mit dem Fuß.

Weil die meisten von uns jedoch nur zwei Füße haben, bleibt bei dem ganzen Geschalte und Gebremse, das bei Stop-and-Go anfällt, kein Fuß mehr übrig, um sich beim Anhalten abzustützen. Man ist also ständig dabei, die Füße auf die Rasten zu stellen, wieder abzusetzen, zu schalten und zu kuppeln und muss dabei die ganze Zeit die Balance halten. Das erfordert einiges an Konzentration, währenddessen man zugleich die Abgase des Wagens vor einem einatmet.

Im Sommer wird das Ganze dann richtig eklig. Kein Motorradfahrer, der auch nur einen Funken Verstand übrig hat, würde ohne Schutzkleidung fahren. Dazu gehört der obligatorische Helm, eine winddichte Jacke mit Protektoren, eine entsprechende Hose, ebenfalls winddicht und abriebfest, vernünftige Handschuhe sowie Stiefel, die über die Knöchel reichen. Ab einer Geschwindigkeit von ca. 50 km/h ist das auch alles kein Problem.

Aber wehe, du musst mit dieser Rüstung in der Sonne stehenbleiben. Und schalten. Und kuppeln. Und bremsen. Und balancieren. Innerhalb von einer Minute ist man darin komplett durchgeschwitzt. Wenn ihr das als Autofahrer nachempfinden möchtet, setzt euch einfach bei 30° mit langer Unterhose, Wollmütze, Jeans, Handschuhen und Winterjacke ins Auto, schaltet Klimaanlage und Lüftung ab, legt die linke Hand auf den Rücken und parkt mal eine Viertelstunde lang bei prallem Sonnenschein rückwärts ein und wieder aus, während auf dem Beifahrersitz geraucht wird. Und dann wisst ihr, warum sich Motorradfahrer an Autoschlangen vorbeidrängeln. Und warum sie das auch dürfen sollten – dazu gab es eine offene Petition, die 135.248 Unterstützer fand. Hoffen wir, dass sie Gehör findet.

Besucht Lars online in seinem Blog unter www.larsreineke.de, bei Twitter unter @larsreineke oder auf Facebook unter lars.reineke.