aus bma 7/01

von Klaus Herder

Yamaha FJR 1300 (Mod. 2001)BMW und Reisemotorräder – das ist wie Bayern München und Fußball. Oder auch wie Michael Schumacher und die Formel 1: Die anderen können sich einen Wolf spielen/fahren – am Ende gewinnt immer der gleiche. In Sachen BMW bedeutete das bislang, dass die Münchener nie den schnellsten, nie den handlichsten und vor allem nie den günstigsten Tourer im Programm hatten, die zweiradmäßig urlaubende Nation dann letztlich aber doch fast immer mit einem Propeller am Tank durch die Welt tobte. Nun sind R 1150 RT, K 1200 RS und Co. ja auch zweifellos wunderbar funktionierende Technik-Schmankerl, doch das sind ein Braun-Trockenrasierer und eine AEG-Gefrierkombination auch. So etwas richtig Nettes fürs Herz kam nur selten aus deutschen Landen. Aber vielleicht wollte der gemeine Klapphelm- und GoreTex-Träger das ja auch gar nicht.
Doch Yamaha, der deutscheste unter den japanischen Herstellern, hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, den vollbärtigen Nordkapbeschickern doch noch eine Schlitzi-Feile als Reisebegleiter unterzujubeln. Die Chancen stehen so gut wie nie zuvor, denn die FJR 1300 kombiniert ungemein clever wahnsinnig sachliche Vernunftlösungen mit einer gehörigen Portion gut getarnter Faszination. Schutzbrief-Besitzer und Kofferinnentaschen-Fahrer schauen erfahrungsgemäß zu- erst auf die Ausstattungsliste. Bitteschön: Saugrohreinspritzung und Motor-Management, geregelter Katalysator mit Sekundärluft-System, Kar- danwelle, elektrisch verstellbare Windschutzscheibe, Haupt- und Seitenständer, Zeit- und Benzinuhr, zwei Tageskilometer-Zähler, 25-Liter-Stahltank (wegen Magnet-Tankrucksack), integrierte Kofferhalter – alles serienmäßig. Waaahnsinn! Und mit dem Zubehörprogramm geht’s noch toller weiter: 32-Liter-Koffer mit in Fahrzeugfarbe lackierten Deckeln (1390 Mark), stufenlos regelbare Heizgriffe (524 Mark), Fußschützer (329 Mark), Alarmanlage, Bügelschloss, Koffer-Innentaschen (!) – klingt doch alles toll, oder?

 

Yamaha FJR 1300 (Mod. 2001)So, die ersten harten Ganzjahresfahrer zeigen bereits leichtes Interesse, wenden den Blick vom Katalog mit der todschicken Funktionsbekleidung, und lassen sich möglicherweise zu einem lockeren Probesitzen überreden. Verdammt clever, wie die von Yamaha das anstellen. Noch ist alles im grünen Tourer-Bereich: 800 Millimeter Sitzhöhe und eine nicht zu breite Bank – passt immer. Ein weitgehend kantenfreier Tank, der in Perfektion den vom legendären Ernst “Klops” Leberwurst so oft propagierten Knieschluss ermöglicht; Lenkerhälften, nicht zu breit oder zu schmal, nicht zu hoch oder zu niedrig, mit fünffach verstellbaren Handhebeln – perfekt. Die in einer schmucken Latzhose mit Stretcheinsatz steckende Sozia hat sich derweil zum Probesitzer gesellt und findet nichts zu maulen: Stabile Haltegriffe an der serienmäßigen Gepäckbrücke, schön viel Platz, ordentlich Abstand zwischen Sitzfläche und Fußrasten – Mutti könnte sich auf der FJR durchaus wohl fühlen.
Aus den Probesitzern sind potentielle Probefahrer geworden. Einen Choke haben und brauchen wir nicht. Dafür gibt’s das Motormanagement. Druck aufs Knöpfen, die Leerlaufdrehzahl wird auf nicht ganz gesund klingende 2500 Touren gemanagt. Der Spuk hat nach kurzer Warmlaufphase ein Ende, ein sanfter Griff zur hydraulisch betätigten Kupplung, mit leichtem Nachdruck den ersten von fünf Gängen eingelegt – los geht’s.
Tja, und nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem beim unbedarften Langstreckenfuchs die ersten Zweifel aufkommen, ob das, was da unter ihm passiert auch so seine Tourer-Richtigkeit hat. Vier flüssigkeitsgekühlte Zylinder mit zusammen 1298 ccm, 144 PS Spitzenleistung, 134 Nm maximales Drehmoment – theoretisch ist schon klar, dass da was passieren muss. Theoretisch. In der Praxis hängt der Vierventiler so fein dosierbar am Gas, wie kein Einspritzer vor ihm. In der Praxis entweicht der Vier-in-zwei-in-eins-in-zwei-Auspuffanlage das dezent arrogante Heulen einer Turbine, gepaart mit dem kernigen Bass eines V8 im Schiebebetrieb. Und in der Praxis hat unser Probefahrer bereits den fünften Gang eingelegt, rollt locker und völlig ruckfrei mit nicht mehr als 50 km/h, passiert das Ortsausgangsschild und gibt einfach nur Gas: Oioioioiooioio, huiiiiieeee, wowowowowww. Lautmalerisch lässt sich das nur unvollkommen darstellen. Wir befinden uns wohlgemerkt immer noch im fünften Gang und schalten nicht. Nie mehr! Die vollgetankt und ohne Passagiere immerhin 275 Kilogramm wiegende FJR muss an irgendeinem voraus montierten Gummiband hängen, das urplötzlich entlastet wird. Zisch und weg. 60 bis 100 km/h in vier Sekunden. Wer bei Null anfängt, braucht für den Sprint keine drei Sekunden. Das alles passiert wohlgemerkt in aufrechter, ungemein bequemer Fahrerhaltung. Es gibt kein Brüllen, kein Fauchen, kein Schreien – einfach nur unglaublichen Schub. Immer und überall. Ab knapp 2000 Touren geht’s ruckfrei voran, ab 3000/min stellt sich ein Dauergrinsen ein, oberhalb der 6000er-Marke brennt die Luft. Der rote Bereich fängt bei 9000 U/min an und wird dank der sehr kurzen Übersetzung auch noch im fünften Gang locker erreicht. Dann ist man mit etwa 250 km/h unterwegs. Der Begrenzer greift rund 1000 Touren später ins muntere Treiben ein.Cockpit
Der kurzhubige Motor ist eine komplette Neukonstruktion. Aluzylinder und Motorgehäuse bilden eine Einheit. Zwei obenliegende Nockenwellen und Tassenstößel besorgen es den Ventilen. Die beiden Getriebewellen plus eine Vorgelegewelle sind übereinander und nicht hintereinander montiert. Das macht den Motor kompakt und kurz. Kürzer geht’s kaum. Zwei Ausgleichswellen stecken auch noch drin, eine elastische Motorlagerung ist damit entbehrlich, leichte Vibrationen sind trotzdem in Fußrasten und Lenker oberhalb von 5000 U/min spürbar, stören aber nicht großartig. Der Vierzylinder ist als mittragendes Teil an vier Punkten mit dem Alu-Brückenrahmen verschraubt. Der kurze Motor schafft Platz für eine lange Schwinge. Kardan-Kenner wissen das zu schätzen, denn je länger die Schwinge ist, desto geringer fallen die Lastwechselreaktionen aus. Der Fahrstuhleffekt beim Gasgeben (rauf) und Gaswegnehmen (runter) ist bei der FJR praktisch nicht zu spüren, eine auf- wendige und schwere Momentabstützung á la BMW-Paralever braucht die Yamaha nicht.
Irgendwelche Zubehör-Federelemente benötigt die FJR ebenso wenig. Die voll einstellbare Telegabel (Federweg 135 mm) mit den fetten 48er-Standrohren und das in Federbasis und Zugstufendämpfung einstellbare Zentralfederbein (120 mm) sind nämlich bereits im Serienzustand goldrichtig abgestimmt. Die Teile sprechen fein an und bieten auch bei voller Zuladung (echte 201 kg) noch immer ausreichende Dämpfungsreserven. Den Spieltrieb befriedigen die während der Fahrt verstellbare Zugstufendämpfung der Gabel (Handrad auf der Gabeloberseite) und die Möglichkeit, mit einem an der linken Seite montierten Hebel eine von zwei Federn des Zentralfederbeins zu blockieren. Im Solobetrieb bleibt der Hebel auf “soft”, zu zweit und mit Gepäck oder bei besonders flotter Gangart darf es “hard” sein.
Gebremst wird mit den bewährten, aus der R1 stammenden Vierkolbensätteln an Doppelscheiben. Hinten unterstützt wirksam eine Soloscheibe. Die benötigten Hand- und Fußkräfte fallen mittelprächtig aus, Ein-Finger-Bremsen sind es nicht. Dafür lassen sich die Stopper fein dosieren und packen bei Bedarf brachial zu.Heck
Unser tapferer, probefahrender Tourer will aber gar nicht bremsen. Ganz im Gegenteil. Der harmlose Langweiler mutiert zum Heizer: enge kurven, weite Kurven, Wechselkurven, Hundekurven – Hauptsache Kurven. Anvisieren, anbremsen, abwin- keln, Gas. Absolut zielgenau, überraschend handlich, spurstabil und jederzeit gut berechenbar bleibt die FJR auf Kurs. Spielerisches Handling ist zwar etwas Anderes, die FJR braucht schon eine führende Hand, doch gefühlsmäßig ist man immer mit einer 50 Kilogramm leichteren Maschine unterwegs. Die FJR macht aus der größten Schlafmütze eine ziemlich aktiven Motorradfahrer, denn der durchzugstarke Motor ist einfach ein Gedicht, das Fahrwerk ist eine Pracht, und die Bremsen sind ein Genuss. Ach ja: Fahrer und Sozia sitzen immer noch sehr entspannt.
Und daran ändert sich auch beim Autobahnbetrieb nichts. Ein Schalter an der linken Lenkerarmatur betätigt den Stellmotor der Windschutzscheibe. Stufenlos geht’s mit dem Plexiglasteil zwölf Zentimeter rauf oder runter. Tief und flach ist in fast allen Fällen die beste Wahl, denn der Wind und Wetterschutz ist bereits auf unterster Stufe korrekt, nur der Helm hängt im Wind. Mit niedriger Scheibe läuft die FJR 1300 auch deutlich oberhalb von 200 km/h stoisch geradeaus. Wer die Scheibe hoch und steil fährt, bekommt weniger Getier aufs Visier, muss aber ab Autobahn-Richtgeschwindigkeit mit Verwirbelungen im Nackenbereich leben und spürt über 180 km/h ab und an eine leichte Unruhe im Fahrwerk. Wer mit einer anderen als der niedrigsten Stellung gut klar kommt, sollte sie sich gut merken, den mit dem Ausstellen der Zündung fährt die Scheibe immer ungefragt in ihre unterste Position zurück. Unterm Strich ist das Teil ein nettes Spielzeug und stört nicht weiter.
Die serienmäßige Warnblinkanlage fällt angenehm auf, die praxisgerecht montierten Spiegel und das hervorragende Abblend- und Fernlicht bescheren der FJR ebenfalls Plus- punkte. Das Aufbocken auf den Hauptständer geht spielend leicht, das An- und Abbauen der Koffer ist Sekundensache, und bei demontierten Containern stört kein sichtbarer Träger. Im flotten Landstraßenbetrieb genehmigt sich die Yamaha beschei- dene 5,5 Liter Normalbenzin auf 100 Kilometern, bei zügiger Autobahnjagd sind es ein bis zwei Liter mehr. 26500 Mark kostet die sehr gut verarbeitete Yamaha FJR 1300 und ist damit etwas unterhalb der BMW-Tarife angesiedelt, was den ein oder anderen Tourensportler oder Sporttourer im allgemeinen und unseren Probefahrer im besonderen in arge Gewissensnöte bringen dürfte. Das schlimmste, was BMW-Verkäufern passieren kann, ist der Fall, dass ihre Kunden eine Probefahrt mit der FJR machen. Es wird schwer sein, sie wieder von der Yamaha herunter zu bekommen. Das Ding bedient Herz und Hintern nun mal gleichermaßen gut.
Doch in solchen Fällen können die BMW-Profis zum härtesten aller Verkaufsargumente greifen: zum ABS-Joker. Für die FJR ist nämlich noch kein Antiblockiersystem lieferbar. Selbst für Geld und gute Worte nicht. Ein Skandal! Tja, und dann passiert vielleicht doch, was eigentlich immer passiert: Am Ende gewinnt wieder BMW.