aus bma 06/02
von Klaus Herder
Sie kennen vielleicht die Geschichte von dem Optimisten mit dem halb vollen und dem Pessimisten mit dem halb leeren Glas Bier. Beide haben exakt die gleiche Menge Gerstensaft im Glas, gehen das Thema Alkoholkonsum nur völlig unterschiedlich an. Weg vom Bier, hin zur Yamaha TDM 900 und dem vorweg genommenen Urteil: Pessimisten werden mit ihr garantiert todunglücklich, denn für sie ist die TDM ein Nichts-Richtig-Könner. Für Optimisten kann sie die perfekte Maschine sein, denn sie schätzen sie als Alles-Recht-Ordentlich-Könner. Das ist nun allerdings keine ganz neue Erkenntnis, denn die TDM gibt’s schon etwas länger. Als TDM 850 erblickte sie 1991 aus zwei mächtigen Glupschaugen die Motorradwelt. Vor über zehn Jahren war die ungewöhnliche Mischung aus Sportler, Tourer und Enduro eine Sensation, die polarisierte. Man liebte oder hasste die TDM, dazwischen gab’s nichts. 1996 gönnte Yamaha der TDM eine kräftige Modellpflege: Motor, Getriebe, Federelemente und Design wurden modernisiert, davor und danach musste sich die TDM nur kleine Überarbeitungen gefallen lassen. Von anfangs 78 PS erstarkte die TDM 850 auf zuletzt 82 PS. Der waschechte, auf dem Motor der Groß-Enduro Super Ténéré basierende Paralleltwin (360 Grad Hubzapfenversatz) mutierte 1996 vom Gleich- zum „Fast-Gegenläufer”, 270 Grad Hubzapfenver- satz machten es möglich. Dieser Kunstgriff bescherte dem flüssigkeitsgekühlten Zweizylinder-Reihenmotor die Zündfolge eines 90-Grad-V-Twins. Der Laufcharakteristik und dem Sound des Ducati-Vorbilds kam der Yamaha-Twin aber nur bedingt nahe. Pluspunkte sammelte der Fünfventiler dafür mit spontaner Gasannahme, bärigem Durchzug und hoher Zuverlässigkeit. Die aufrechte und auch auf Langstrecken sehr bequeme Sitzposition auf der TDM 850 schätzten besonders lange Kerls, denen eine Boxer-BMW zu spießig und eine Guzzi zu italienisch waren. Rund 14.000 Käufer fand die TDM 850 allein in Deutschland, weltweit waren es knapp 70.000.
Mit über zehn Jahren Produktionszeit galt die TDM 850 für japanische Verhältnisse aber schon als Saurier, ein Nachfolgemodell musste her. Die Ziele waren eindeutig: leichter, kräftiger und sauberer sollte die neue TDM werden. Diese Vorgaben erfüllten die Yamaha-Techniker hundertprozentig, doch mit einer noch so kräftigen Modellpflege war es diesmal nicht getan. Die TDM 900 ist praktisch eine Neukonstruktion. Wo bei der TDM 850 Stahlprofile zum Einsatz kamen, ist bei der TDM 900 Leichtmetall verbaut: Beim Brückenrahmen und der Schwinge kommt Aluminium zum Einsatz. Die Dreispeichen-Räder blieben im Durchmesser gleich (vorn 18, hinten 17 Zoll), legten in der Breite zu und tragen fettere Gummis (120/ 70 und 160/60 anstelle von 110/80 und 150/70) – und sind trotzdem leichter als die bei der TDM 850 verbauten Teile. Einige Gramm sparte auch noch das neue Cockpit mit einem leichten Multifunktionsdisplay; und beim Tank, der Verkleidung samt Heckpartie und den Radabdeckungen fanden die Ingenieure auch noch etwas Sparpotenzial. Mit 20 Litern Normalbenzin betankt wiegt die TDM 900 exakt 223 Kilogramm. Das sind immerhin 10 Kilo weniger als bei der TDM 850. Was um so bemerkenswerter ist, da das neue voll einstellbare Federbein nicht mehr direkt, sondern über ein gewichtiges Hebelsystem angelenkt wird, und die Gabel mit Verstellmöglichkeiten für Federvorspannung und Zugstufendämpfung aufgewertet wurde.
Dem Motor ging’s an die Zylinderbohrung: 92 anstelle von 89,5 Millimetern lautet der aktuelle TDM-Wert. Die neuen Alu-Schmiedekolben haben einen Arbeitsweg von unverändert 67,5 Millimetern – macht unterm Strich 897 statt 849 ccm Hubraum. Und bevor wir’s vergessen: Die Pleuel sind leichter, die Auslassventile hitzebeständiger und die Zylinderlaufbahnen keramikbeschichtet. Dass Kurbelwelle und Nockenwellen ebenfalls neu sind und der Kühler kompakter ausfällt, dürfte nun eigentlich nicht mehr überraschen. Die absolute Leistungsausbeute fiel in Anbetracht der vielen Änderungen dabei gar nicht mal so sensationell aus: 86 PS liegen bei 7500 U/min an. Das maximale Drehmoment von 89 Nm stemmt der Twin bei 6000 Touren.
Deutlich beeindruckender ist da schon die Art der Kraftstoffversorgung. Die TDM 900 wird nämlich von einer elektronisch gesteuerten Saugrohreinspritzung befeuert. Konsequenterweise stecken nun auch zwei geregelte Dreiwege-Katalysatoren in der neuen Edelstahl-Auspuffanlage. Obendrauf gibt’s sogar noch ein Sekundärluft-System – eigentlich erstaunlich, dass die TDM 900 in Gelb, Silber und Dunkelblau und nicht ausschließlich in Grün lieferbar ist.
Genug der Theorie, hinein in die Praxis. Ab sofort sitzt der Fahrer nicht mehr in, sondern auf der TDM. Der etwas höher gelegte Arbeitsplatz ist für Menschen von über 1,80 Meter Länge nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil. Kürzere Zeitgenossen müssen sich ziemlich strecken, um an den Stahlrohrlenker zu kommen und um mit beiden Fußspitzen Bodenkontakt zu halten. Die TDM 900 macht besonders Normalwüchsigen – also Menschen ab einsachtzig – Spaß. Die können sich dann über einen sehr entspannten Kniewinkel und eine aufrecht-bequeme Sitzposition auf einer recht straff gepolsterten und absolut soziustauglichen Sitzbank freuen.
Das Gefummel mit dem Choke-Hebelchen kennen TDM 900-Fahrer nicht. Die manuell zu bedienende Kaltstarthilfe gibt’s nicht mehr, fürs allzeit zuverlässige Starten sorgt die clevere Einspritz-Elektronik. Beim Rühren im Getriebe fallen drei Dinge auf: die Wege sind kürzer, die Geräusche geringer und die Zahl der Schaltstufen mehr geworden. Ein Sechsganggetriebe ersetzt die alte Fünfgang-Box. Die Abstufung ist perfekt – der erste Gang ist nun kürzer übersetzt, die nachfolgenden Gänge liegen enger beieinander, und der letzte Gang ist länger übersetzt. Das sorgt für einen äußerst flotten Antritt in der Stadt und auf der Landstraße und für nervenschonende Drehzahlen auf der Autobahn.
Wer es unbedingt wissen will, ist auf der TDM 900 mit knapp 210 km/h unterwegs. Der Geradeauslauf ist dann zwar immer noch tadellos, doch der Windschutz hinter der kleinen Verkleidungsscheibe verdient bereits ab 160 km/h nur noch das Urteil „sehr mäßig”. Dynamische Fernreisende finden im Yamaha-Zubehörprogramm aber zwei höhere Nachrüst-Verkleidungsscheiben für 84 beziehungsweise 98 Euro.
Die Gasannahme ist nicht ganz so messerscharf wie bei der alten TDM 850, aber immer noch sehr gut. Eine gefühlvolle Gashand ist trotzdem gefragt, denn hektische Kordelzieher werden mit deutlich spürbaren Lastwechselreaktionen bestraft. Dieses Leiden ist zwar nicht ganz so ausgeprägt wie bei der ersten TDM 850, doch leider immer noch vorhanden. Die Freunde einer runden, vorausschauenden Fahrweise und des klassischen Mit-Zug-um-die Kurve-Stils können diese Ruppigkeit aber in erträglichen Grenzen halten.
Ansonsten ist der ab 5000 U/min kernig bollernde Twin ein echter Quell der Freude. Ab 2000 U/min kann locker gecruist werden, zwischen 4000 und 7000 Touren spielt richtig die Musik. Der rote Bereich bei 8000 U/min und erst recht die Begrenzer-Drehzahl von 9500 U/min werden in der Praxis eigentlich nie erreicht. Die TDM 900 bietet wie ihre Vorgängerin bärigen Durchzug, das Surfen auf der Drehmoment-Welle gehört mit der TDM zu den Lieblingsübungen. Übermäßig spürbare Vibrationen kommen dabei nie durch, zwei Ausgleichswellen sorgen für einigermaßen Ruhe. Die Tankstelle muss bei normaler Gangart nur alle 400 Kilometer angesteuert werden. Schmerzfreie Heizer müssen sich anstrengen, den Verbrauch über sechs Liter zu treiben.
Egal, wie flott es mit der TDM ums Eck geht – der neue Rahmen ist ein Ausbund an Stabilität. Da rührt nichts, die Fuhre liegt satt und souverän. Kurze, trockene Stöße mögen die Federelemente allerdings nicht ganz so gern. Die Gabel braucht schon gröberes Asphalt-Flickwerk, um sensibel anzusprechen. Das Federbein ist praktisch immer und unabhängig von jedweder Einstellung ein ziemlich harter Hund. Die Anbieter von Zubehör-Federelementen werden also auch in Zukunft einen Teil ihrer Kundschaft aus den Reihen der TDM-Fahrer rekrutieren. Und wo wir gerade am Meckern sind: Die Spiegel sind zu klein, das Abblendlicht strahlt eher mäßig (das Fernlicht dagegen gut), und dass ein Hauptständer bei einem 9590 Euro plus 160 Euro Nebenkosten teuren Allrounder nur gegen 155 Euro Aufpreis zu haben ist, muss auch nicht sein.
An anderer Stelle waren die Yamaha-Verantwortlichen dafür durchaus spendabel. So gibt es eine serienmäßige Warnblinkanlage, praktische Gepäckhaken, eine Zeituhr, zwei Tageskilometerzähler und einen Schnellverschluss zwischen Tank und Einspritzanlage. Batterie und Sicherungen stecken unter der Sitzbank und sind damit gut zugänglich. Die Bremsen der TDM waren eigentlich schon immer gut, doch die der TDM 900 sind noch besser. Ums Vorderrad kümmert sich nämlich die komplette, genial verzögernde Anlage des Supersportlers R1. Der hintere Stopper hat nicht nur Alibifunktion, sondern unterstützt wirksam und gut dosierbar.
Die Pessimisten stellen an dieser Stelle fest, dass die TDM keine ganz sportlichen Fahrleistungen, keinen tourerartigen Wind- und Wetterschutz und keine enduromäßige Handlichkeit bietet. Die Optimisten freuen sich über eine sehr bequeme Sitzposition und die einfache Bedienung, über einen kräftigen, sauberen und sparsamen Motor, über geniale Bremsen, eine gute Ausstattung und eine tadellose Verarbeitung…
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