aus bma 02/05
von Klaus Herder
Wenn im Zusammenhang mit Fahrzeugen die Begriffe „Legende” oder „Mythos” fallen, gehen bei mir sämtliche Alarmglocken an. Oft genug steckt hinter der vermeintlichen Legende eine ziemliche Gurke, zu deren Mythos-Status wohl hauptsächlich der Faktor Zeit beigetragen hat – die Erinnerung verklärt bekanntlich. Oft genug stricken auch die Mythos-Besitzer selbst am Image. Merke: Wenn man schon einen Haufen Kohle in die Restaurierung irgendeines Alteisens gesteckt hat, darf man sich und anderen durchaus einreden, daß es sich dabei um einen Mythos handelt. Die schlimmsten Mythos-Schwafler sind diejenigen, welche den vermeintlichen Meilenstein nie selbst bewegt haben, aber trotzdem kräftig mitreden. Beispiele gefällig? Mythos Münch. Vor rund 15 Jahren war es mir vergönnt, eine TTSE ausführlich fahren zu dürfen. Mir fallen auf Anhieb nicht viele Motorräder ein, die dermaßen überschätzt werden. Lausiges Fahrwerk, mäßige Bremsen und ein eher harmloser Motor, dem alles Brutale völlig abgeht. Und das nicht nur unter heutigen Maßstäben. Mythos VW Käfer, noch so ein Fall. Zugegeben: Das Ding hatte eine einmalige Form, die aber vielleicht gerade deshalb so einmalig war, weil es kaum ein verbauteres und unpraktischeres Auto gegeben hat. Und jetzt komme mir bitte niemand mit dem Spruch von der unglaublichen Wartungsfreundlichkeit eines Käfers. Ich kenne kein Auto, bei dem man sich beim Schrauben ähnlich gut die Finger brechen kann.
Zurück zum Motorrad. Sie verstehen jetzt vielleicht meine Vorbehalte, wenn ein Fahrzeughersteller damit wirbt, eine Legende, einen Mythos wieder aufleben zu lassen. Nachdem man jahrelang alles getan hat, um die XT-Baureihe immer lahmer und langweiliger werden zu lassen, erinnerte sich Yamaha 2004 zur Markteinführung der XT 660 R an die eigene Geschichte. Und die ist durchaus erzählenswert: 1976 war’s, als die XT 500 eine neue Fahrzeuggattung begründete, die der großvolumigen, absolut alltagstauglichen und vor allem bezahlbaren Reise-Enduro. Miese Bremsen, lausige Elektrik, schnellrostender Auspuff – geschenkt, der XT konnte man fast jede Macke verzeihen, denn sie war tatsächlich wartungsfreundlich, grundsätzlich recht zuverlässig und eine rundherum ehrliche Haut. Am Mythos wurde allerdings schon damals kräftig gestrickt. Das falsche Ankicken des Eintopfs sollte angeblich zu zerschmetterten Fußgelenken oder zerbröselten Schienbeinen führen. Unsinn, wer sich nicht ganz blöd anstellte, bekam den offen brutale 32 PS leistenden Single mit etwas Übung locker in Gang und holte sich zuvor schlimmstenfalls ein paar blaue Flecke. Den XT-Besitzern kam das Image vom harten Männermotorrad allerdings gar nicht ungelegen. 14 Jahre lang wurde die XT 500 gebaut, erst 1989 war Schluß, rund 25000 XT 500 fanden allein in Deutschland Käufer. In der Zwischenzeit wuchs die XT-Familie kräftig: 1982 kam die vierventilige XT 550, ein Jahr später gab’s Verstärkung durch die Ténéré, der ersten XT 600. Mit fünf Ventilen, Wasserkühlung und der XTZ 660 ging’s 1991 weiter, die zuletzt mit E-Starter daherkommende XT 600 blieb bis 2003 im Programm. In knapp 30 Jahren verkaufte Yamaha in Europa rund 400.000 Maschinen, die das Kürzel XT in der Typenbezeichnung führten.
Doch zuletzt war die real existierende XT als Neumaschine nur noch ein Schatten ihrer selbst. Lahm, langweilig – ein Mauerblümchen, an dem die Zeit vorbeigerauscht war. Etwas Neues mußte her, etwas komplett Neues. Daß mit dem theoretisch modernen, in der Praxis aber eher müden 660er-Fünfventilmotor kein Blumentopf mehr zu gewinnen war, bewies (und beweist noch immer) MZ, in deren Baghira der Yamaha-Single als Organspende mehr schlecht als recht Dienst tut. Yamaha entschied sich für eine Neukonstruktion. Nicht absolute Spitzenleistung, dafür aber ein bäriger Drehmomentverlauf und ein typischer Single-Charakter standen im Lastenheft ganz oben. Kompaktheit und geringes Gewicht waren ebenfalls vorrangige Entwicklungsziele. Ein kerniger, zum XT-Mythos passender Motor sollte es werden. Immer schärfere Emissions-Grenzwerte machten die Entscheidung für Wasserkühlung und Einspritzanlage leicht. Ein komplett neuer Zylinderkopf mit einer oben liegenden Nockenwelle und vier Ventilen, ein Alu-Zylinder samt geschmiedetem Alu-Kolben sowie ein kräftig überarbeitetes und verstärktes Fünfganggetriebe sorgen nun für den XT-Vortrieb. 48 PS bei 6000 U/min und 58 Nm bei 5250 U/min sind ordentliche, klassenübliche Werte.
Der neue Motor steckt in einem neuen Rahmen. Vorbei die Zeiten des zentralen Hauptrohrs, der Einrohrrahmen wich einer Stahlrohrkonstruktion mit zwei Oberzügen, die seitlich vom 15-Liter-Tank in Richtung Schwingenlagerung laufen. Das soll für mehr Stabilität bei höheren Geschwindigkeiten sorgen. Tut es auch, soviel sei schon an dieser Stelle verraten. Der Ausgleichsbehälter der Trockensumpfschmierung ist in den Rahmen integriert und befindet sich hinter dem mit Kegelrollenlagern bestückten Lenkkopf. Das Vorderrad führt eine Paioli-Telegabel mit 43 Millimeter starken Standrohren, die von großen Kunststoffabdeckungen hervorragend vor Schmutz geschützt werden. 225 Millimeter Federweg gibt’s an der nicht verstellbaren Gabel, deren 200 sind’s beim Zentralfederbein, das sich etwas umständlich zumindest in der Federvorspannung fünffach verstellen läßt. Die von Pirelli, Michelin oder Metzeler stammenden Reifen haben die gängigen Enduro-Formate 90/90-21 und 130/80-17.
Der neue XT-Arbeitsplatz befindet sich in 870 Millimetern Sitzhöhe. Die recht straff gepolsterte Bank ist ziemlich schmal geschnitten, was kurzbeinige Fahrer freuen und breitärschige Kilometerfresser etwas ärgern wird. Der Sozius findet kein üppiges, aber doch ausreichendes Platzangebot. Einen Drehzahlmesser hat das digitale Mäusekino nicht zu bieten. Dafür gibt es aber immerhin zwei Tripzähler, die Gesamtkilometer, die Kilometer ab Benzinreserve, die Uhrzeit und natürlich das Tempo zu sehen. Die Handhebel lassen sich leider nicht verstellen, die perfekte Rücksicht bietenden Spiegel trösten darüber aber etwas hinweg.
Gestartet wird der Single aus-schließlich elektrisch und ohne irgendeine Choke-Fummelei. Egal, ob kalt, lau, warm oder heiß – der Eintopf legt immer sofort los und blubbert überraschend kernig aus den beiden Edelstahl-Schalldämpfern. Zwei ungeregelte Katalysatoren und ein Sekundärluftsystem sorgen dafür, daß Euro 2 kein Problem darstellt.
Verlangten frühere XT-Getriebe oftmals nach stabilem Schuhwerk und kräftigem Zutreten, ist die neue Schaltbox kaum wiederzuerkennen. Sehr exakt, absolut leichtgängig und ohne größeren Kraftaufwand lassen sich jetzt die fünf Gänge wechseln. Dafür gibt’s an dieser Stelle das größtmögliche Lob: wie Honda. Ähnlich souverän ist die Arbeit am Gasgriff. Die Gasannahme ist hervorragend, jeder noch so kleine Zug an der Kordel wird in sofortigen Vortrieb umgesetzt. Die Sache hat allerdings auch einen kleinen Haken. Wenn mal nicht kräftig an der Brause gedreht wird, man also nur so vor sich hinrollt, kann die XT ihren Fahrer mit einem Verhalten nerven, von dem sonst nur Fahrer älterer BMW-Einspritzer zu berichten wissen: Konstantfahrruckeln im Teillastbereich. Das Phänomen tritt allerdings nicht bei allen Maschinen auf. Wer damit ein ernstes Problem hat, darf sich vertrauensvoll an seinen Händler wenden. Yamaha kennt das Thema und hat auch eine Lösung in petto.
Im Normalfall läßt es der XT-Treiber aber durchaus krachen, denn der agile, erstaunlich drehfreudige Motor verführt zum genußvollen Angasen. Die Yamaha-Techniker haben sich viel Mühe gegeben, die bewegten Massen im Motor möglichst gering zu halten. Die auffällige Drehfreude ist das Ergebnis dieser Feinarbeit. Dabei darf’s auch durchaus aus dem Drehzahlkeller losgehen. So ab 2000 U/min legt der neue Motor ohne Ruckeln und Verschlucken mächtig los, kein Vergleich mit dem eher phlegmatischen 660er-Fünfventiler. Zwischen 3000 und 6500 U/min fühlt sich der Bollermann am wohlsten, darüber geht’s nur noch etwas zäh in Richtung Drehzahlbegrenzer, der bei 7300 U/min Schicht macht. Für den Sprint von 0 auf 100 benötigt die XT rund fünfeinhalb Sekunden, in 12,5 Sekunden ist sie auf Tempo 140, und bei knapp über 160 km/h ist Vmax erreicht. Das sind ordentliche, aber nicht überragende Werte. Mit einem Kampfgewicht von vollgetankt immerhin 190 Kilogramm ist die XT nämlich alles andere als ein Leichtgewicht. Eine XT 600 hatte vor 15 Jahren 30 Kilo weniger zu schleppen, eine XT 500 wog noch mal fünf Kilo weniger. Da kann es nur wenig trösten, daß die direkte Konkurrentin BMW F 650 satte 13 Kilo schwerer ist und mit unter 180 Kilogramm eine ähnlich bescheidene Zuladung wie die XT 660 R hat. Daß es trotz Wasserkühlung auch anders geht, beweist KTM. Eine vergleichbare LC4 Enduro wiegt 32 Kilo weniger und darf 15 Kilo mehr schleppen – sie kostet allerdings auch 1400 Euro mehr.
Der Vergleich mit der KTM ist aber eigentlich müßig, denn die XT will gar keine Hardenduro sein. In der Stadt, auf engen Landstraßen, auf leichtem Schotter und auch auf der Autobahn ist sie der deutlich angenehmere Partner. Sie mag ein paar Kilo zuviel mit sich schleppen, doch in Sachen Handlichkeit und Alltags-tauglichkeit macht ihr kaum ein Konkurrent etwas vor. Was allerdings nicht heißen soll, daß es an der XT 660 R keine Ansatzpunkte für Modellpflegemaßnahmen geben würde. Die Gabel und das Federbein sind in Sachen Ansprechverhalten keine Offenbarung. Die eher straff abgestimmten Federelemente machen im Normalbetrieb zwar einen ordentlichen Job, doch sobald der Belag deutlich unebener wird, benehmen sie sich ziemlich unsensibel. Etwas Modellpflege täte auch der Vorderradbremse gut. Die reinen Verzögerungswerte sind okay, doch damit die Doppelkolben-Schwimmsattelbremse tat-sächlich kräftig in die 298-Millimeter-Scheibe beißt, muß sehr kräftig zugelangt werden, worunter wiederum die Dosierbarkeit leidet. Schön, daß die XT zwei Edelstahlkrümmer hat. Weniger schön, daß die schutzlos direkt unterm Motor entlanggeführt werden. Die Wasserpumpe ist ebenfalls recht sturzgefährdet, einen Motorschutz gibt’s nur gegen 163 Euro Aufpreis. Einen Hauptständer sucht man im Zubehörprogramm (noch) vergebens; ABS gibt’s ebenfalls nicht – was übrigens einer der wirklich ganz wenigen Gründe sein könnte, die BMW F 650 GS der XT vorzuziehen.
Für XT-Modellpflege bleibt also noch ausreichend Raum – was man durchaus positiv sehen kann. Es bedeutet nämlich im Umkehrschluß, daß die neue XT erst am Anfang einer langen Karriere steht und ihr noch viele Jahre vergönnt sein werden. Verdient hat sie es, denn die für 6350 Euro in „Racing Blue” oder „X-Grey” lieferbare neue XT ist schon in ihrer Erstauflage ein ganz großer Wurf. Neben den bekannten XT-Tugenden bietet sie nämlich etwas, was in den letzten Jahren vor lauter Mythos-Pflege zu kurz gekommen ist: jede Menge Fahrspaß. Sie ist eine würdige Erbin der Legende XT 500 und hat durchaus das Zeug dazu, selbst einmal zum Mythos zu werden. Zu einem echten, versteht sich.
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